„Wir sind Menschen auf dem Weg“

Die Bedeutung von Heimat und die Herausforderungen der Flüchtlingswelle waren Thema einer Podiumsdiskussion in St. Johann Baptist Refrath

Müllberge – soweit das Auge reicht. Dazwischen frierende Menschen im Schlamm mit leerem Blick. Notdürftig errichtete Zelte gegen Regen und Hoffnungslosigkeit. Diese Bilder gingen vor einem Jahr um die Welt. Das Arztehepaar Bita und Khalil Kermani aus Köln zeigt im Pfarrsaal von St. Johann Baptist auch solche Fotos: von seinen Aufenthalten in den Flüchtlingslagern Idomeni, Lesbos und Torbali hinter der türkischen Grenze. Eigentlich wollte es im Herbst 2015 nur Urlaub auf Kreta machen. Doch durch eine SMS von Bruder und Schwager Navid Kermani, der zeitgleich für den „Spiegel“ die Balkanroute bereiste, werden die beiden auf die dramatischen Zustände der Flüchtlinge aufmerksam. Ohne Zögern schließen sie sich seinem Hilfswerk „Avicenna“ an und reisen nun regelmäßig nach Griechenland und in die Türkei, um den dort in Camps lebenden Menschen mit Medikamenten, Nahrung, aber mittlerweile auch Schulprojekten zu helfen. „Seitdem sind wir Menschen auf dem Weg und begegnen Menschen auf dem Weg. Das hat unser Leben verändert und uns nicht mehr los gelassen“, sagen sie.

Die zwei Deutsch-Iraner waren Gäste einer Podiumsdiskussion in Refrath, bei der die PGR-Vorsitzende von St. Johann Baptist, Dr. Barbara Voll-Peters, den FDP-Landtagsabgeordneten und ehemaligen NRW-Innenminister Dr. Ingo Wolf, den Gladbacher Bürgermeister Lutz Urbach, Raphaela Hänsch vom Fachdienst für Integration und Migration der Caritas Rhein-Berg sowie Hendrik Grote, Bundesministerium für Bildung und Forschung, zu dem Themenkomplex befragte: Wie verändert sich unsere eigene Heimat durch die Ankunft der Flüchtlinge? Und: Können wir das wirklich schaffen? Denn bis heute stand das Flüchtlingsboot des Erzbistums 14 Tage lang in der Refrather Kirche. Es sollte die Öffentlichkeit dazu animieren, sich mit diesem „negativen Symbol für Scheitern“, wie Voll-Peters es nannte, auseinanderzusetzen. Und das gleichzeitig mit dem eigenen Verständnis von „Heimat“ unter der Maßgabe: Wie lässt sich eine gemeinsame Gesellschaft mit Menschen aus anderen Kulturkreisen gestalten?

Konsens herrschte darüber, dass die Fluchtgründe in den Herkunftsländern verhindert werden müssen, die Bildungsarmut als Kern allen Übels zu bekämpfen sei und die Einwanderung grundsätzlich so geregelt werden müsse, dass nicht falsche Hoffnungen geschürt werden, die Flüchtlinge dann doch kein Asyl bekommen und unter Umständen nach dreijährigem Aufenthalt und neu entstandenen Bindungen abgeschoben werden. Nach wie vor stünde Deutschland vor einer großen humanitären Aufgabe. Unterbringung sei noch keine Integration, sagte Wolf. Sprache und Bildung seien der Schlüssel zu allem. Dabei sei der syrische Zahnarzt nach wie vor die Ausnahme. Aber auch das Gemeinschaftsgefühl und der Wille zur Beteiligung müssten geweckt werden. „Das kann man nicht verordnen.“ Gleichzeitig forderte der FDP-Politiker ein, angesichts der politischen Großwetterlage „für unsere Werte und einen demokratischen Grundkonsens zu kämpfen. Wir müssen aufwachen und uns für Europa stark machen. Wer die Grundlagen unseres Zusammenlebens nicht kennt, kann sie auch nicht verteidigen.“

Von einer „Herkulesaufgabe“ und „großen Anstrengung“ sprach auch Bürgermeister Urbach, der bislang in Bergisch Gladbach für 1600 Flüchtlinge sorgen muss und die bis heute anhaltende Welle der Hilfsbereitschaft aus der Bevölkerung, aber auch die logistische Leistung des Deutschen Roten Kreuzes ausdrücklich würdigte. „Dass wir alles bewältigen konnten, ist das Verdienst unserer Bürgergemeinschaft. Ohne Ehrenamt und Nachbarschaft wäre das nicht zu schaffen gewesen. Auch er betonte noch einmal, dass Bildung es einfacher mache und es ohne Sprache nicht gehe. Es dürfe nicht noch einmal – wie in der Gastarbeitergeneration – geschehen, so warnte der Politiker, dass die Ankommenden kein Deutsch lernten. „Ich möchte nicht, dass dadurch Parallelgesellschaften entstehen. Schließlich entscheiden sich die Flüchtlinge für dieses Land, weil es so ist, wie es ist.“ Und angesichts der 2016 täglich 30, 40 angekommenen Flüchtlinge befand Urbach: „Das war Management pur: Wir bekamen nur den Namen und das Geburtsdatum, keine Angaben zur Nation oder Religion. Die besten Infos gab’s vom Busfahrer.“ Als die zunächst vereinbarte Flüchtlingsanzahl weit übertroffen wurde, hatte Urbach damals sowohl im Bundeskanzleramt als auch bei NRW-Innenminister Jäger mit dem Argument vorgesprochen: „Die Kommunen können neben der operativen Last nicht auch noch die finanzielle tragen.“ Außerdem machte er sich jetzt in der Refrather Runde dafür stark, das Asylrecht zügiger zu prüfen, um es zu langjährigen Bindungen gar nicht erst kommen zu lassen. „Es ist legitim, dass jeder versucht, seine eigene Situation zu verbessern. Aber es dürfen nicht Flüchtlinge ohne Bleibe-Recht das System für diejenigen verstopfen, die einen Anspruch darauf haben.“

Raphaela Hänsch, die bei ihrer Arbeit unmittelbar mit den Ängsten der Flüchtlinge konfrontiert wird, appellierte an die Zuhörer, den Flüchtlingen Begegnungen zu ermöglichen und keine Erziehungsmaßnahmen zu verordnen. Ein Hauptthema sei die Angst vor Abschiebung – und diese sei ansteckend. Dabei käme die Berücksichtigung der Emotionen dieser Menschen oft zu kurz. Die Geschwindigkeit, mit der das Wort „Integration“ gebraucht werde, sei absurd, sagte sie. Wer könne schon angesichts der erlittenen Traumata binnen kürzester Zeit eine völlig neue Sprache erlernen, warb Hänsch für Nachsicht. Auch sie lobte den Einsatz von mehr als 1200 Ehrenamtlern, die sich derzeit in der Rhein-Berg-Flüchtlingshilfe engagieren, und freute sich darüber, dass viele darüber nachdenken, wie sich konkret eine Gesellschaft mit Flüchtlingen gestalten lasse. „Wer Begegnung mit diesen Menschen erlebt, neigt nicht mehr zu einem Pauschalurteil“, sagte sie. Doch oft genug stoße ein offenes Herz an politische Grenzen. Trotzdem, so die Überzeugung der Caritas-Mitarbeiterin: „Wenn es nicht Deutschland schaffen kann, welches Land dann…“

Hendrik Grote rundete die Gemeinde-Veranstaltung mit Statistiken ab. So sind 96 Prozent aller Flüchtlinge unter 50 Jahre alt und mehrheitlich Männer. Seine Schlussfolgerung: Eine junge männliche muslimische Gesellschaft trifft in Deutschland auf eine erheblich ältere und christlich geprägte. Gleichzeitig betonte er Migration und Flucht als Normalität. Zurzeit seien etwa 65 Mio. Menschen auf der Flucht, und nur ein verschwindend kleiner Prozentsatz habe sich nach Deutschland aufgemacht. Für die Bekämpfung von Fluchtursachen speziell in Afrika nannte er die Geburtenkontrolle und für die Zuwanderungsströme grundsätzlich eine bessere Informationsarbeit über das Bleiberecht in Deutschland und den anderen europäischen Ländern. „Man muss den Staaten zu einem selbsttragenden Wirtschaftswachstum verhelfen“, lautete ein weiteres seiner Argumente. An anderer Stelle zeigte er auf, was das Bundesbildungsministerium bereits zur Integration getan habe, um Flüchtlingen beispielsweise einen besseren und schnelleren Zugang zu Hochschulen zu ermöglichen. Abschließend relativierte Grote bewusst: „Wir haben eine schwierige Aufgabe, aber andere Staaten – beispielsweise der Libanon oder Jordanien – haben noch viel größere Lasten zu schultern.“

Text und Fotos – Beatrice Tomasetti

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