Luz und Ana spielen auf dem nackten Lehmboden. Sie tollen herum, klatschen in die Hände und kreischen zwischendurch immer wieder fröhlich. Draußen vor der Baracke sitzt ihre Mutter Carla am Straßenrand und kocht. Aus einfachen Lebensmitteln bereitet die Mutter der beiden kleinen Mädchen im Alter von zwei und vier Jahren warmes Essen zu, das sie für wenige Soles an Passanten verkauft. Es ist die einzige Einnahmequelle, die die 29-Jährige hat, um ihre Kinder zu versorgen, seit ihr Mann bei einem tödlichen Unfall mit seinem Moto-Taxi, einem für die südamerikanischen Armenviertel typischen Transportmittel auf drei Rädern, ums Leben gekommen ist. Doch Carla gibt nicht auf, obwohl sie kaum genug hat, um mit ihren Töchtern über die Runden zu kommen. Zumal das Leben in den kargen Bergen von Lima, wohin die Armen und Obdachlosen aus der 12 Millionen-Hauptstadt Perus gedrängt werden, öde und hart ist. Hier gibt es keinen Strom und auch kein fließendes Wasser oder eine Heizung während der kalten Wintermonate. Nur riesige Wassertanks, die von der Kommune mitten in diese Elendsviertel hineingestellt wurden, sichern das Überleben in San Juan de Lurigancho, einem sehr einfachen und kriminalitätsreichen Destrikt außerhalb des Stadtzentrums.
Ein paar Hütten weiter wohnt der fünfjährige Leonardo mit seiner „Mammita“, wie er seine Großmutter liebevoll nennt. Die 85-Jährige ist vor vielen Jahren am Straßenrand beim Kochen von einem Auto erfasst worden und hat dabei beide Beine verloren. Seitdem kann sie sich nur noch über Bambusstäbe, die auf dem Boden liegen, rutschend fortbewegen. Ihr Haus besteht aus schmalen Holzpaneelen und einem Blechdach über gestampfter Erde. Sie hat nur einen einzigen Wohnraum und eine Küche. Die Beiden, Großmutter und Enkel, sind auf sich allein gestellt und sorgen füreinander – soweit das geht. Weitere Angehörige gibt es nicht. Und sie gehören zur Kirchengemeinde „Cristo libera“, der Kirche am Ortseingang, die wie ein Hoffnungssymbol über die notdürftig errichteten Behausungen dieser Menschen hinausragt. Diese Pfarrei ist es auch, der die Armen in ihren Slums nicht egal sind und die dem Elend ihrer Bewohner Gemeinschaftsangebote entgegensetzt und Hausbesuche macht – bis hin zur allerletzten Hütte im entlegensten Winkel. Von den dicht besiedelten Anhöhen ist ein weiter Blick über das ausgedehnte Gebiet mit seinen zahllosen Behelfsunterkünften, die gerade auch die junge Generation oft als „Freilandgefängnis“ empfindet, möglich. Und hier zeigt sich auch das ganze Ausmaß der riesigen Smog-Glocke, die immer wieder über der fünftgrößten Stadt Südamerikas hängt und für weite Teile des Jahres den Himmel unsichtbar macht.
„Zwei Drittel der Einwohner Limas sind arm, leben unter menschenunwürdigen Zuständen, wie wir sie uns kaum vorstellen können, und werden in solchen Ghettos von den reichen Vierteln der Stadt hinter Stacheldrahtzäunen mit Sicherheitstoren abgegrenzt. Denn die sozialen Unterschiede sind groß in diesem Land“, berichtet Claudius Gatzweiler, der vier Wochen lang über ein Projekt der Gemeinschaft der Dienerinnen und Diener des Evangeliums, die am Kölner Jugendpastoralen Zentrum „Crux“ angesiedelt ist, Einblick in das Leben dieser Menschen bekommen hat. Das letzte Modul eines Glaubenskurses, an dem der 22-Jährige teilgenommen hat, war mit einer Einladung zu einem sozialen Einsatz in Lima verbunden. Denn die noch junge missionarische Gemeinschaft ist international ausgerichtet und hat dort einen Standort.
„Für mich war von Anfang an klar, dass dieser Freiwilligendienst in Südamerika eine ganz prägende Erfahrung werden würde, die ihre Spuren hinterlässt. Denn es ging darum, mit den Ärmsten der peruanischen Bevölkerung sehr konkret ein Stück Weg zu teilen, sich auf ihre Situation einzulassen und davon auch berührt zu werden“, reflektiert Gatzweiler seinen Einsatz. „Gleichzeitig bot diese Reise auch die Chance, die Lebendigkeit von Kirche in einem ganz anderen Teil der Welt kennenzulernen, wo sie von existenzieller Bedeutung für das Leben der Menschen ist, weil sie sich an die Seite der Schwachen, Benachteiligten und gesellschaftlich Vergessenen stellt. Da wird der Glaube zum Rettungsanker, denn Gott ist für diese Menschen allgegenwärtig – das zeigen die vielen Christusbilder an jeder Hauswand und in allen öffentlichen Verkehrsmitteln.“
Rückblickend fühlt er sich durch die Erfahrungen in Limas Armenviertel reich beschenkt. „Man bekommt mehr zurück, als man gibt.“ Auch wenn er San Juan zwar zunächst wie einen Kulturschock erlebt habe, hätten die Begegnungen dort aber den eigenen Blick auf den Wert des Lebens nochmals grundlegend verändert. „Obwohl diese Menschen, die wir in ihren Hütten besucht haben, nichts besitzen, hadern sie nicht mit ihrem Schicksal. Im Gegenteil: Jedes Angebot für die Kinder, mit denen wir gespielt und viel gesungen haben, um sie von ihrem tristen Alltag einen Moment lang abzulenken, wurde mit großer Freude und Dankbarkeit angenommen“, schildert er seine Beobachtung. „Die Menschen sind trotz allem so unglaublich lebensfroh und auch sehr fleißig.“ Denn jeder versuche mit seinen bescheidenen Mitteln, das Beste aus seiner Situation zu machen und etwas Sinnvolles zu tun, damit der Erlös auch aus dem kleinsten Job gerade eben so das Nötigste sichere.
Am Vormittag arbeitet der Student in der Einrichtung „San Camillo“, eigentlich ein Priesterseminar, wo aber auch HIV-Patienten und Aidskranke aller Altersgruppen untergebracht sind und Therapieangebote bekommen. Sein weniges Spanisch reicht aus, um mit den Erwachsenen einigermaßen kommunizieren zu können und auch dort die Kinder zu zu betreuen oder zu typischen Volkstänzen zu animieren. „Ich wollte für sie da sein – und wenn auch nur für diese begrenzte Zeit“, betont Gatzweiler. Zwischendurch arbeitet er mit anderen Jugendlichen – alles Freiwillige aus ganz Europa, die ebenfalls bei diesem Projekt mitmachen und dafür ihre Freizeit investieren – handwerklich und hilft bei Reparaturen am Haus. Und nachmittags geht es dann durch schmale Gassen und teils unwegsames Gelände in die Berge, wo es keinerlei Infrastruktur gibt, geschweige denn medizinische Hilfen. „Hier haben organisierte Gangs das Sagen, die Angst und Schrecken verbreiten. Denn in diesen Elendsvierteln existiert eine hohe Kriminalitätsrate. Hier zu leben ist nicht nur trostlos, sondern auch gefährlich. Und überall trifft man auf eine unfassbare Armut, die einen hilflos macht. Und auf Menschen, die bei diesen Clan-Auseinandersetzungen ihre Familienangehörigen verloren haben“, erklärt Gatzweiler.
Die eigene Ohnmacht angesichts solcher Zustände sei für ihn das Schlimmste gewesen, schildert der junge Mann. Dass seine persönlichen Mittel sehr begrenzt gewesen seien, um die größte Not zu lindern, und er zumindest materiell kaum etwas tun konnte, habe ihn sehr beschäftigt. Auch wenn er zuvor in seiner Bensberger Heimatgemeinde St. Nikolaus das Anliegen seiner Peru-Reise vorgetragen und um Spenden gebeten hatte, von denen er nun Medikamente und Schulmaterialen kauft. Auch dass diese Menschen von einer großen Herzlichkeit und Wärme sind, mit der sie ihn als Fremden aufgenommen und ihre Gastfreundschaft zum Ausdruck gebracht hätten, sei ihm lange nachgegangen. Sowie vor allem die Frage, was aus jedem Einzelnen wohl werden mag, wenn dieses kirchliche Projekt endet und damit diese Hilfe wegbricht.
„Ihr Mut, den widrigen Lebensumständen zu trotzen, und auch die Kraft, mit der sie ihr Leben bewältigen, haben mich ungemein beeindruckt. Ihre Fähigkeit, aus jeder noch so zermürbenden Situation doch etwas Gutes zu machen, lehrt einen, die eigenen Probleme stark zu relativieren und nicht zu wichtig zu nehmen.“ Am Anfang fühle man sich wie gelähmt, wisse nicht, wie man mit all dem umgehen solle. „Das löst ganz automatisch den Reflex aus, gerade für die Schwächsten von ihnen, die Kinder, Chancen schaffen zu wollen, wo keine Hoffnung mehr ist. Alle diese Menschen, denen ich begegnet bin, sind gute Lehrmeister darin, auch mit wenig zufrieden zu sein und trotzdem nicht zu verzweifeln. Sie kennen keine Angst, weil sie einfach nichts besitzen, was sie verlieren könnten“, sagt Claudius Gatzweiler.
Bis heute gehe ihm Neymar nicht aus dem Sinn, der jedes Mal auf ihn zugesprungen kam, wenn er und die anderen Jugendlichen den Vierjährigen besuchten. „Dann hatte das Kind, das nur Quechua, den einheimischen Dialekt der indigenen Bevölkerung, spricht, in diesem Niemandsland aneinandergereihter Wellblechhütten nur Augen für uns Fremde. Ich habe Neymar auf den Arm genommen, durch die Luft gewirbelt und mit ihm ein einfaches Kinderlied angestimmt. Niemals werde ich seinen Blick vergessen, als er beim Abschied aus seiner Hosentasche eine kleine Spielfigur zog und sie mir schenkte, damit ich mich – wie er sagte – immer an ihn erinnere.“ Bis heute bewege ihn diese kindliche Geste, in die der kleine Junge sein ganzes Herz gelegt habe.
„Für die vielen Armen in Peru zählt vor allem die Gemeinschaft – auch die im Glauben, der sie darin stark macht, ihr Schicksal zu meistern“, erklärt Gatzweiler. Auch das werde ihm unvergesslich bleiben. Immer gehe es um Beziehungen und darum, Leid miteinander zu tragen und zu teilen. Niemand werde aufgegeben oder ausgegrenzt. Jeder habe seinen Wert und werde so angenommen, wie er ist. „Das zu erleben war eine ganz besonders kostbare Erfahrung. Im Grunde leben uns diese Menschen, die so viel weniger haben als wir, auf eine ganz selbstverständliche Weise vor, was es heißt, füreinander da zu sein und diese Welt dadurch ein Stück besser zu machen.“
Claudius Gatzweiler dankt ausdrücklich allen Gemeindemitgliedern von St. Nikolaus, die spontan bei der Vorstellung dieses kirchlichen Peru-Projektes am Ende eines Sonntagsgottesdienstes im Sommer großzügig dafür gespendet hatten. Aus dem Erlös hatte er Medikamente und Schulmaterialien für die Kinder in dem Armenviertel San Juan de Lurigancho gekauft. Außerdem konnte zusammen mit dem Geld, das auch die anderen Jugendlichen aus ganz Europa in ihrem jeweiligen Heimatland gesammelt hatten, die lebensrettende Operation eines Kleinkindes finanziert werden.
Text – Domradio-Beitrag vom 30. Dezember
Fotos – Ana Maria Preußer und Mateusz Rdzanek