Am zweiten Sonntag im Jahreskreis hat Diakon Clemens Neuhoff in den Sonntagsgottesdiensten von St. Joseph und St. Nikolaus gepredigt. In Anlehnung an das Tagesevangelium spricht er über das Thema „Berufung“. Seine Predigt ist nachfolgend im Wortlaut dokumentiert:
„Seht, das Lamm Gottes!“ „Was sucht ihr?“ „Rabbi, wo wohnst du?“ „Kommt und seht!“ „Wir haben den Messias gefunden.“ „Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen.“
Das alles, liebe Schwestern und Brüder, sind wörtliche Reden des heutigen Evangeliums. Betrachtet man diese für sich, ergibt sich fast schon eine ganze Geschichte, in der es um Erkenntnis geht, um Suchen und Finden und – vor allem – um Berufung. Schauen wir uns die einzelnen Teile dieser Geschichte genauer an, denn die Geschichte, die hier erzählt wird, ist die Geschichte eines jeden Christen, sie ist unsere Geschichte.
„Seht, das Lamm Gottes!“ Die Aufgabe des Täufers Johannes ist eine immens wichtige. Er ist von Gott gerufen, Jesus den Weg in der Wüste zu bahnen. Er ist derjenige, der sich klein macht, sich ganz in den Hintergrund stellt und – von sich selbst weg – auf jemand anderen verweist, nämlich auf Jesus: „Seht, das Lamm Gottes!“ Offenbar hatte auch Johannes, so wie Jesus, selbst Jünger, die ihm nachfolgten und seiner Lehre zuhörten. Auch diesen gebietet er, Jesus zu folgen. Und sie tun es. Das Leben eines Christen beginnt also damit, dass jemand uns sagt: Dieser da ist es, dem du nachfolgen sollst. Eine Person, die von sich weg zeigt auf Christus. Oft sind es unsere Eltern gewesen, Oma oder Opa, Freunde, manchmal auch Lehrer, Priester oder andere Personen. Überlegen Sie ruhig mal, wer in Ihrem Leben Ihr Johannes war, der Ihnen gezeigt hat, dass es sich lohnt, diesem Jesus zu folgen.
„Was sucht ihr?“ Hinter dieser Frage verbergen sich hundert andere Fragen, und sie rührt zutiefst an unserer Existenz. Was suchen wir eigentlich in unserem Leben? Worauf zielt es ab? Welchen Sinn hat das Ganze? Wenn ich in die Tiefe meines Herzens blicke, meiner Wünsche und Sehnsüchte, was suche ich dann eigentlich? Die Begegnung mit Jesus lädt uns ein, sich darüber im Klaren zu werden, sich diese Fragen zu stellen. Die Jünger wissen, was sie suchen und antworten: „Rabbi, wo wohnst du?“ Rabbi. Wörtlich auf Deutsch übersetzt heißt es: mein Meister, mein Lehrer. Die Wurzel dieses Wortes im Hebräischen heißt „Großer, Bedeutender“. Dank Johannes wissen die Jünger, dass Jesus eine bedeutende, die bedeutendste Person ist, der sie begegnen können. Und wo wollen sie Jesus begegnen? Dort, wo er zu Hause ist, wo er wohnt, wo er lehrt, wo sie ihn aufsuchen und ihm immer wieder zuhören können. Ihr sehnlichster Wunsch, die Frage „Was sucht ihr?“ glauben sie, beantworten zu können, wenn sie bei Jesus sind und sehen, wo er wohnt. Wir sollten uns heute fragen: Will ich wissen, wo Jesus ist? Und wenn ja, wo kann ich ihm begegnen? Denn eines ist klar: Jesus will sich finden lassen, er will, dass die Jünger zu ihm kommen können, denn er antwortet: „Kommt und seht!“
Er könnte auch antworten: im fünften Haus der kleinen Straße rechts ab vom Markplatz. Nein, er erklärt es nicht mit Worten, er lädt die Jünger ein, mitzukommen und zu sehen. Denn seine Mission erklärt er später so: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ Deswegen lädt er die Jünger ein. Er will ihnen Anteil geben an der Fülle des Lebens, und diese kann nicht mit Worten erklärt werden, sondern muss geschaut und erfahren werden. Heute lädt Jesus uns ein zu kommen und zu sehen. Anteil zu haben an seinem Leben.
„Wir haben den Messias gefunden.“ Die Freude darüber, Jesus gefunden zu haben, steckt an. Andreas geht sogleich zu seinem Bruder Simon und erzählt ihm, dass er den Messias gefunden habe. Als Jude wusste Simon natürlich sofort, was dies bedeutet: der Messias. Auf nichts haben sie sehnlicher gewartet als darauf, dass Gott endlich seinen Gesalbten schickt, den Messias, der von so vielen Propheten schon angekündigt wurde, der Israel erlösen sollte, der eine neue Ära einleiten sollte. Darum ging Andreas sofort zu Simon und berichtet ihm. Zugegeben, in unserer heutigen Zeit sorgt es nicht unbedingt für helle Begeisterung, wenn man erzählt: Ich bin Jesus begegnet. Ich habe sogar die Erfahrung gemacht und von anderen gehört, dass man in „Kirchenkreisen“ mitunter schräg angeguckt wird, wenn man ein persönliches Zeugnis von Jesus ablegt, davon erzählt, welche Wunder er im eigenen Leben gewirkt hat. Nicht unbedingt als Diakon oder Priester oder Pastoralreferentin, es ist ja schließlich unser Job, dies zu tun. Aber als „Laie“ landet man schnell in einer Schublade, wenn man persönliche Glaubenserfahrungen teilt. Die Sprachfähigkeit über unseren Glauben scheint verloren gegangen zu sein. Doch das macht das Christentum doch gerade aus: „Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund.“ Wir müssen uns nicht schämen für unseren Glauben, wir dürfen davon Zeugnis ablegen, zu unseren Bekannten gehen, wie Andreas zu Simon gegangen ist und sagen: „Wir haben den Messias gefunden.“
Und schließlich: „Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen.“ Im Gegensatz zu den anderen Evangelisten erzählt Johannes schon ganz zu Beginn von der Berufung des Simon und dass Jesus ihm den Beinamen „Kephas, Petrus, Fels“ gibt. Dies zeugt davon, wie sehr Gott jeden einzelnen Menschen kennt und wie er für jeden von uns eine bestimmte Berufung hat. Und es zeugt davon, dass Gott uns Menschen nicht aufgrund unserer Stärke, sondern gerade wegen unserer Schwäche ruft. Vergessen wir nicht, dass Petrus sich im weiteren Wirken Jesu eher als Großmaul, Dickkopf und später sogar als Verleugner auszeichnete, anstatt der große Verkünder zu sein und bei Jesus zu bleiben bis zum bitteren Ende. Ich persönlich empfinde die Berufungsgeschichte des Petrus immer als eine enorme Entlastung, weil sie mir sagt, dass Gott mich beruft – in meinem Fall zum Diakon und zum Priester – obwohl, ja gerade weil er meine Schwäche kennt und weiß, dass ich ihm oft widerspreche und ihn gar verleugne. Vielleicht geht es Ihnen auch so. Doch: „Gottes Gnade erweist ihre Kraft in der Schwachheit“, schreibt Paulus an die Korinther.
Das heutige Evangelium lädt uns ein, uns zu hinterfragen, an welchem Punkt dieser Berufungsgeschichte wir eigentlich stehen. Und unabhängig davon, wo wir uns verorten, ist die Erzählung für jeden einzelnen von uns eine Verheißung: Jesus ruft uns in seine Nachfolge, er will, dass wir bei ihm sind, ihm zuhören und von ihm erzählen. Und er ruft uns, obwohl er weiß, dass wir schwache Menschen sind und ihn verraten werden. Trotzdem ist er für uns ans Kreuz gegangen und hat sich uns in der Eucharistie geschenkt, die wir nun weiter feiern.
Text – Clemens Neuhoff
Foto – Beatrice Tomasetti