Die Wortgottesdienste für die Bewohner im Bensberger „Carpe diem“ gestaltet Friederike Daubenbüchel mit vertrauten Elementen
„Schön, dass Sie wieder bei uns sind. Ich habe Sie vermisst.“ Liebevoll beugt sich Friederike Daubenbüchel über den Rollstuhl von Ursula Müller und nimmt die 91-Jährige in den Arm. Auch deren Nachbarin, die mit kleinen Tippelschritten eher unruhig wieder den Ausgang sucht, wird persönlich willkommen geheißen und sanft daran gehindert, wegzulaufen und die Runde wieder zu verlassen. Ein undeutliches Murmeln ist die Antwort auf die freundliche Begrüßung von Daubenbüchel, die fast alle Gottesdienstbesucher namentlich kennt und dem Pflegepersonal gerade dabei hilft, in dem geräumigen Speisesaal des Altenheims die Bewohner mit ihren Rollatoren und Rollstühlen in die bereits aufgestellten Stuhlreihen zu leiten. Sie sollen möglichst aktiv an diesem Wortgottesdienst teilnehmen, einen Blick auf den passend zum Martinsfest dekorierten Altartisch haben, vor allem aber auch akustisch folgen können. Denn die Vertreterin der Bensberger Kirchengemeinde St. Nikolaus, die einmal im Monat eine solche Feier im „Carpe diem“ anbietet, hat auch diesmal wieder einfache Texte mit passenden Inhalten herausgesucht, vor allem aber viele altbekannte Lieder. Denn Daubenbüchel weiß, wie wichtig es für die betagten Menschen ist, eine Melodie wiederzuerkennen, sie mitsingen oder doch wenigstens mitsummen zu können und auf diese Weise an Vertrautes anzuknüpfen. So ist die Musik ein wesentliches Element der Gottesdienste. Und die Helfer staunen nicht selten darüber, dass selbst mancher demente Bewohner „Großer Gott wir loben dich“ von der ersten bis zur letzten Zeile auswendig kennt.
Überhaupt ist für manche Besucher – mit und ohne Demenz – ein solcher Gottesdienst entlang der Jahresfeste wie eine Zeitreise. „Ich weiß noch ganz genau, wie stolz wir als Kinder auf unsere selbst gebastelten Laternen waren. So viel buntes Papier gab es ja damals gar nicht zu kaufen. Und auch das Licht bestand noch aus einer echten Kerze, manchmal nur einem abgebrannten Stumpf, auf den man gut aufpassen musste, sollte das kleine leuchtende Kunstwerk nicht in Flammen aufgehen“, erinnert sich eine 81-Jährige. „Für mich war das Schönste, wenn das ganze Haus nach der brutzelnden Gans im Ofen duftete und Mutter dafür eigens den schweren Eisenbräter aus dem Keller holte“, erinnert sich ein 92-jähriger Mann. „Das Großartigste überhaupt war doch ein echtes Pferd mit Reiter und natürlich dieses riesige knackende Feuer in der Winterluft. Das habe ich geliebt“, ruft ein anderer lebhaft dazwischen. Derweil beginnt Daubenbüchel die liturgische Feier mit dem Kreuzzeichen und stimmt zur Klavierbegleitung von Regine Stricker – auch sie kommt aus der Pfarrei St. Nikolaus und wirkt ehrenamtlich an der Gestaltung des Gottesdienstes mit – gleich das erste Lied an. „Du bist das Licht der Welt“, singen die alten Menschen eifrig alle vier Strophen mit teils brüchiger Stimme. Während es draußen längst dunkel geworden ist…
Von der Altarkerze über das weiße Tischtuch und das Holzkreuz bis hin zu den geweihten Hostien bringt Daubenbüchel stets alles Nötige mit, um dem zweckmäßig eingerichteten Raum eine stimmungsvolle Atmosphäre abzugewinnen. „Ich bau‘ mir Kirche nach“, erklärt die 62-Jährige, die im „Carpe diem“ den Ruf der „kleinen Frau Pastor“ weghat. Rund 30 Teilnehmer kommen regelmäßig zu ihren Gottesdiensten, an Feiertagen sind es deutlich mehr. Ohne die bereitwillige Unterstützung durch das Personal wäre das nicht möglich, denn ein Großteil der Besucher muss in mobilen Hilfsmitteln gebracht und wieder abgeholt werden. Auch die Heimleitung fördert das Projekt und hat mittlerweile eigene Gotteslob-Ausgaben angeschafft. Daubenbüchel, die aus innerem Antrieb die Idee zu diesem katholischen Wortgottesdienst entwickelte, hat beim Bistum inzwischen eine Ausbildung zur Wortgottesdienstleiterin und auch zur Kommunionhelferin absolviert. Sie geht in ihrer Rolle sichtlich auf. „Wenn die Menschen den Weg nicht mehr in die Kirche schaffen, muss Kirche eben zu ihnen gehen“, sagt sie. Dass sie mit ihren berührend gestalteten Gottesdiensten ein Segen für die Senioreneinrichtung ist, bescheinigt ihr nicht nur Michael Schönig vom Sozialen Dienst.
Einen pastoralen Leitfaden für diese anspruchsvolle Aufgabe hat sie nicht. Aber mit ihrem Gespür für das, was gerade „dran“ ist – an Zuwendung, aber auch an religiöser Ansprache – liegt sie genau richtig. „Diese Gottesdienste bedeuten mir sehr viel. Sie schaffen Zugehörigkeit und koppeln uns Senioren nicht ab“, würdigt dementsprechend Gertrud Halekoh dieses Engagement. Die 79-Jährige ist kfd-Mitglied und singt noch im Kirchenchor. Auch in die Kirche schafft sie es noch alleine. Trotzdem gehört sie zur festen „Gottesdienstgemeinde“ im Carpe diem“, denn seit 2014 wohnt sie dort. Auch Magdalena Feldwisch, trotz Rollators mit ihren 81 Jahren noch recht selbständig, ist bei jedem Gottesdienst mit dabei. „Es kommt nicht darauf an, noch jedes Wort zu verstehen“, sagt sie. „Das Bildhafte prägt sich dennoch ein, und die vielen vertrauten Kirchenlieder haben Wiedererkennungswert.“ Als ehemalige Religionslehrerin schätzt sie das pädagogische Geschick von Daubenbüchel, die bei der Gestaltung der Gottesdienste viel Sensibilität zeigt und die Menschen mit ihrer Botschaft erreicht. Die Ehrenamtlerin selbst erklärt dazu: „Man muss fühlen, was diese alten Menschen brauchen, und alle Sinne ansprechen. Manchen hilft es schon, dass man einfach nur da ist und ein Wort des Trostes mitbringt oder ihnen die Hand hält.“
Thematisch liege es auf der Hand, den Martinstag mit dem Thema „Licht“ zu kombinieren, argumentiert sie. Immer gut vorbereitet auf ihren Einsatz, hat sie diesmal kleine bunte Lampions mitgebracht. Dann spricht sie in ihrer bewusst schlicht gehaltenen Katechese davon, dass „Gott uns auf unserem Weg durch Krankheit und Not nicht alleine lässt. Er führe uns aus dem Leid zum Leben, aus dem Dunkeln ans Licht“, formuliert Daubenbüchel eine Fürbitte, die individuell auf die Situation ihrer Gottesdienstbesucher abgestimmt ist. Aber auch die Geschichte des Heiligen Martin bekommt ihren Platz: dass er im 4. Jahrhundert gelebt habe und aus dem Gebiet des heutigen Ungarn stammte, dass er Mönch wurde und im Jahr 371 Bischof von Tour. Sie erzählt von der Legende der Mantelteilung, auch von den schnatternden Gänsen, die den Heiligen in einem Versteck verraten haben sollen. Und schließlich erwähnt sie auch den Karneval, der im Rheinischen traditionell ebenfalls auf den 11.11. fällt. Mit einem Mal lachen auch diejenigen auf, die bis dahin in sich gekehrt wirkten und die Hände bislang andächtig gefaltet hielten.
Und dann kommt wieder einer dieser Sätze, die den Zuhörern in diesem Saal Mut machen sollen – trotz des Haderns mit der eigenen Gebrechlichkeit: „Gott ist immer mit uns: in den traurigen Momenten, wenn uns das Leben schwerfällt, dürfen wir seine Zuversicht spüren.“ An anderer Stelle betont die Leiterin dieser Feier: „Gott will uns Licht sein und Halt. Denn er gibt uns die Zusage: Ich bin das Licht!“ Das bedeute, er lasse niemanden allein. Und wieder stellt Daubenbüchel einen Zusammenhang zwischen dem kirchlichen Gedenktag und der dunklen Jahreszeit her: „Eine solche Verheißung hat auch der Heilige Martin erfahren und erkannt, dass Jesus Christus das Licht in seinem Leben ist.“
Wer Menschen auf dem letzten Stück Lebensweg begleitet, erlebt unweigerlich, dass ein solcher Dienst auch eine seelsorgliche Dimension hat. „Die Menschen kommen auch, um ihr Päckchen abzuladen“, weiß Friederike Daubenbüchel. Den alten Menschen Aufmerksamkeit und Zeit zu schenken ist daher für sie selbstverständlich. Denn oft hätten sie ein großes Bedürfnis zu reden: über die Vergangenheit, über ihre Angehörigen, über belastende Erfahrungen. Sie sind empfänglich für Glaubensthemen, haben jedoch einen besonderen, mitunter sehr emotionalen Zugang zu religiösen Fragen. „Wir dürfen diese Menschen nicht vergessen. Sie haben ein Anrecht darauf, von Gott zu hören“, findet Daubenbüchel. „Und: Sie haben ein absolutes Vertrauen in Christus.“ Das wolle sie jedes Mal neu stärken und ganz nebenbei wohltuende Kindheitserinnerungen wecken. Dafür sei das Fest des Heiligen Martin ganz besonders geeignet. „Doch immer“, betont sie, „geht es mir vor allem um Zuspruch, Trost und Ermutigung.“
Text – Beatrice Tomasetti/Martina Martschin
Fotos – Beatrice Tomasetti