Die Predigt von Pfarrer Janßen am 25. April im Wortlaut
Wenn ich heute am Tag meiner Verabschiedung als Pfarrer dieser Gemeinde zurückblicke auf die 33 Jahre, die ich hier in Bensberg gelebt und gewirkt habe, dann wird mir bewusst, wie die Zeiten sich ändern – und das in einem offenbar immer rasanteren Tempo. Dieses Veränderungstempo hat dazu geführt, dass zu den Tugenden unserer Zeit Mobilität und Flexibilität gehören, sowie dauernde Lernbereitschaft – nicht nur im beruflichen Bereich.
Die Kehrseite davon ist, wenn ich richtig sehe, aber auch eine wachsende Scheu, sich längerfristig festzulegen und dauerhafte Bindungen einzugehen. Das gilt für Wohnort und Arbeitsplatz, aber auch für weltanschauliche oder politische Positionen und leider auch für menschliche Beziehungen. Wer weiß denn heute schon, was demnächst angesagt sein wird oder welche unerwarteten Chancen oder Angebote sich mir morgen auftun? Von daher wächst die Neigung, sich nur noch unter Vorbehalt zu engagieren und Zusagen nur so lange einzuhalten, wie sich keine verlockendere Alternative bietet. Andererseits gibt es trotz dieser um sich greifenden Unverbindlichkeit – oder vielleicht gerade deswegen – eine anscheinend unausrottbare Sehnsucht nach Zuverlässigkeit, Verbindlichkeit und Geborgenheit. In dieser Sehnsucht meldet sich – so deute ich es – etwas so Grundlegendes zu Wort, dass es auch durch noch so rasante Wandlungsprozesse nicht überholt werden kann; etwas Fundamentales, ohne das unser Leben und unser Zusammenleben nicht gelingen und glücklich werden kann.
Diese Ursehnsucht der Menschen nach Verlässlichkeit und Geborgenheit erhält aus der Bibel eine Antwort, die dieser Sehnsucht Recht gibt. Diese Antwort begegnet uns im Bild des „Hirten“. Schon bei den Propheten und in den Psalmen wird das Verhältnis Gottes zu seinem Volk in diesem Bild ausgedrückt, das eine doppelte Botschaft enthält:
Einmal sagt es: Ohne Beziehung zu Gott befinden sich die Menschen in der desolaten Situation einer Herde, die keinen Hirten hat, die auseinanderfällt, verwahrlost, sich zerstreut und schutzlos allen Gefahren ausgesetzt ist.
Zum anderen sagt es: In der Beziehung zu Gott finden die Menschen einen absolut zuverlässigen und kraftvollen Halt und Schutz. Gott verbürgt sich für das, was seine Herde zum Leben braucht: Gemeinschaft, Geborgenheit, Sicherheit, Wohlergehen.
Darum heißt es im 23. Psalm: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen ….“ (ps 23), und beim Propheten Ezechiel spricht Gott: „Ich werde meine Schafe auf die Weide führen, ich werde sie ruhen lassen…“ (Ez 34,15)
Diese Botschaft des Alten Bundes greift Jesus auf, wenn er von sich selbst als dem „Guten Hirten“ spricht. Das unverbrüchliche Engagement Gottes für das Wohlergehen seines Volkes, das schon zum Glaubensgut Israels gehörte, wird hier noch einmal radikalisiert und erweitert: radikalisiert, weil Jesus das Eintreten für die ihm anvertraute Herde bis zur letzten Konsequenz führt, bis zur Hingabe des eigenen Lebens für die Schafe. Und erweitert wird die Hirtensorge insofern, als es nun nicht mehr nur um das alte Gottesvolk geht, sondern alle Menschen in diese Hirtensorge Gottes einbezogen sind. Kein Mensch ist mehr ausgeschlossen von dieser treuen Sorge Gottes, die ihm sagt: Du, fürchte dich nicht. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du gehörst mir.
Dieses unverbrüchliche „Ja“ Gottes zu uns Menschen, dieses Äußerste an verbindlicher Zuwendung und verlässlicher Geborgenheit ist seit Jesus nicht mehr nur eine prophetische Verheißung, sondern ist eine Erfahrung geworden, die Menschen in der Begegnung mit diesem Jesus gemacht haben, eine Erfahrung, aus der sie gelebt haben und für die sie gestorben sind. Wenn Gott so zu uns steht, ja was kann uns dann eigentlich noch passieren – so fragt etwa der Apostel Paulus. Was für ein Lebensgefühl, was für eine tiefe Sicherheit und Gelassenheit spricht aus diesen Worten.
Ist das etwas, was wir nachvollziehen können? Ist das eine Antwort auf unsere Sehnsucht nach Verlässlichkeit, Treue und Geborgenheit? Nun, das ist eine Frage, auf die jeder seine persönliche Antwort finden muss. Ich erlebe immer wieder Menschen, die dann, wenn es hart auf hart kommt, gar nichts von dieser unverbrüchlichen Hirtensorge Gottes spüren, die ihnen Zuversicht und Trost geben könnte. Ich kenne auch Menschen, die sich wahnsinnig schwer tun, an die Zuverlässigkeit Gottes zu glauben, wenn sie in ihren mitmenschlichen Kontakten genau diese Verlässlichkeit vermissen müssen. Ich kann das gut nachempfinden und spüre dabei, dass dieses tragende und schützende Verhältnis zu Gott, das die Bibel im Bild vom guten Hirten zur Sprache bringt, sich nicht einfach von selbst versteht und praktisch nur verkündet werden muss, um das Lebensgefühl der Menschen zu verändern. Es muss in diesem Zusammenhang auch von zwei grundlegenden Rahmenbedingungen gesprochen werden, ohne die das Bild von der Hirtensorge Gottes wirkungslos bleibt.
a) Einmal gilt es zu bedenken, dass es hier um eine Wechselbeziehung geht. Das „Ja“ Gottes braucht die Antwort des Menschen. Die Sorge Gottes um uns stößt ins Leere, wenn wir uns dieser Sorge Gottes nicht anvertrauen. „Ich kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich“ – sagt Jesus. Dass er uns kennt und jeden Einzelnen beim Namen ruft, das ist die Zusage, auf die wir uns verlassen können. Ob wir IHN aber kennen, das ist eine ganz andere Frage. Wobei „kennen“ hier in einem qualifizierten Sinn zu verstehen ist: Es geht hier um ein tieferes Verständnis von dem, was die Persönlichkeit eines anderen ausmacht, was ihn bewegt, wofür er steht und wie er sich verhält. Wie auch in unseren zwischenmenschlichen Beziehungen sind wir mit diesem „Kennenlernen“ im Blick auf Jesus von Nazareth nie am Ende.
Das ist meine persönliche Erfahrung nach über 40 Jahren im priesterlichen Dienst, und darum ist mir in all den Jahrzehnten das Vertraut-Werden mit seiner Gestalt ein Herzensanliegen gewesen – für mich selbst, aber auch für die mir anvertrauten Gemeinden, in denen ich durch Predigt, Katechese, Bibelarbeit oder theologische Erwachsenenbildung dieser wachsenden Kenntnis Jesu und seines von ihm verkündeten Vaters dienen wollte. Ohne ein solches Kennenlernen kann keine wirkliche Beziehung zu ihm wachsen und auch kein Vertrauen darauf, dass ich – komme, was das wolle – bei ihm in guten Händen bin. Wo ich mich aber auf ihn einlasse und mich mehr und mehr von seiner Hirtensorge getragen fühle, da darf ich darauf hoffen, in schweren Zeiten, die unausweichlich auf jeden von uns zukommen, die Worte des Psalmisten mitsprechen zu können: „und muss ich auch wandern in finster Schlucht, ich fürchte keine Unheil, denn du bist bei mir“.
b) Und eine zweite Rahmenbedingung gilt es zu bedenken: Die Zuverlässigkeit und der unerschrockene Einsatz der Hirtensorge Jesu ist ja etwas, was unter der Überschrift steht: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit auch ihr einander tut, was ich an euch getan habe.“ Mit anderen Worten: die Verlässlichkeit der Beziehung und die Bereitschaft, sein Leben für andere zu investieren, die Jesus uns vorgelebt hat, müssen doch unter uns Christen weiterhin erfahrbar bleiben. Darin sehe ich ein wesentliches Element des Hirtendienstes, den ich – in aller Unvollkommenheit – in den zurückliegenden Jahrzehnten zu erfüllen mich bemüht habe; und dass mir das so lange Zeit an einem Ort zu tun vergönnt war, mit all dem, was an tragenden und vertrauensvollen Beziehungen dabei gewachsen ist, das betrachte ich als ein großes Geschenk.
Als ein ebenso großes – wenn nicht noch größeres – Geschenk betrachte ich die Erfahrung, dass dieser Hirtendienst nicht nur mein Thema gewesen ist, sondern sich – fast wie bei der wunderbaren Brotvermehrung – in unglaublicher Fülle vervielfältigt hat: nicht nur im Dienst all der Seelsorgerinnen und Seelsorger, mit denen ich im Laufe der Jahre in herzlicher und verlässlicher Verbundenheit in unserem Pastoralteam zusammenarbeiten durfte, sondern auch in der schon unüberschaubaren Fülle all derer, die sich neben Familie und Beruf mit ihrer Lebens- und Glaubenskraft ehrenamtlich für unsere Gemeinden engagiert haben. Ich hoffe, Sie sehen es mir nach, wenn ich hier, stellvertretend für viele andere, drei Gruppierungen in den Blick rücke: einmal jene, die in all den vielen Jahren als Katechetinnen und Katecheten unseren Kindern und Jugendlichen in der Kommunion- und Firmvorbereitung ein liebevolles und verlässliches Beziehungsangebot gemacht und für sie glaubwürdige Zeugen der frohen Botschaft geworden sind; zum anderen all jene, die sich mit viel Aufmerksamkeit, Herz und Tatkraft für ihre Mitmenschen in Not eingesetzt haben und einsetzen – ob in den Caritasausschüssen, in der Hospizarbeit, in unseren Hilfswerken, in der Nachbarschaftshilfe oder wo auch immer. Und zum dritten all die Frauen und Männer, die in den Gremien unserer Gemeinde – Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstand – ihr Interesse und ihre Kompetenz investiert haben, damit unsere Gemeinde funktionsfähig bleibt und Lebendigkeit ausstrahlt. Sie alle verkörpern je in besonderer Weise die „Hüterrolle“ Jesu, des Guten Hirten und machen ihn hier und heute erfahrbar.
Mit dieser ermutigenden Erfahrung im Gepäck kann ich leichter Abschied aus meiner bisherigen Rolle nehmen, die mir in fast der Hälfte meines Lebens doch sehr ans Herz gewachsen ist, von der ich mich – so spüre ich es – nun aber auch lösen muss. Ich tue es jetzt auch beruhigter, da ich weiß, dass mit Andreas Süß, dem 40-jährigen bisherigen Subregens des Priesterseminars und Leonhard Schymura, dem bisherigen Rösrather Pastoralreferenten eine Nachfolgeregelung für unser Pastoralteam gefunden worden ist, die frische Impulse für die kommenden Jahre erwarten lässt. Für mich selbst wird es darum gehen, meinem Dienst als Arbeiter im Weinberg des Herrn und als Teilhaber an seiner Hirtensorge, die ja beide weiterhin unter dem bei der Priesterweihe gegebenen Versprechen des „Adsum – Ich bin bereit!“, stehen, eine neue Form zu geben. Dass mir dies mit der Hilfe des Hl. Geistes gut gelingen möge, darum bitte ich Euch alle um Euer Gebet.
Predigt – Pfarrer Heinz-Peter Janßen
Fotos – Markus Bollen Photography