
Ein Glücksfall für die Gemeinde in Bensberg. Vor 40 gewinnt Pfarrer Heinz-Peter Janßen den „malenden Prediger“ für ein mehrjähriges Auftragswerk. Was zunächst bekannte Sehgewohnheiten sprengt, erweist sich bald als großes Geschenk. Im Interview erinnert er sich, wie es dazu kam.
Der Bensberger Kreuzweg von Sieger Köder gehört mit seinen 14 Bildtafeln zu den monumentalsten Werken des Künstlers und hat weit über die lokalen Stadtgrenzen hinaus bis heute Magnetwirkung. Für die Gemeinde St. Nikolaus war das damals ein Jackpot, Köder für dieses Projekt gewinnen zu können. Wie ist Ihnen das gelungen?
Pfarrer i. R. Heinz-Peter Janßen (Langjähriger Seelsorger an St. Nikolaus, Bensberg): Mitte der 80er Jahre war die Kirche komplett renoviert und wieder in ihrer ursprünglichen Farbigkeit hergestellt worden. Da passte der alte Kreuzweg – eine Schwarz-weiß-Kohlezeichnung, die zuvor die Innengestaltung im Stil der neuen Sachlichkeit aufgegriffen hatte, aber inzwischen auch wurmstichig und nicht mehr restaurierbar war – nun gar nicht mehr. Das führte zu Überlegungen, einen neuen Kreuzweg anzuschaffen, wobei wir uns allerdings erst einmal in der Umgebung umgeschaut und auch probeweise ausrangierte farbige Kreuzwege aus anderen Kirchen aufgehängt haben. Doch das führte zu keiner befriedigenden Lösung.
Eines Tages fiel mir ein Bild von Sieger Köder ein, das es mir immer schon angetan hatte: Veronika, die Jesus das Schweißtuch reicht. Eine verblüffende und zugleich sehr anziehende Interpretation dieser Kreuzwegstation. In dieser Manier einen kompletten Kreuzweg zu haben, dachte ich, wäre einfach toll. Sieger Köder war für mich ein großer Künstler, dessen Werk mir zwar vertraut war, den ich aber nicht persönlich kannte. Ohne wirklich mit einer Zusage zu rechnen, habe ich dann Kontakt mit ihm aufgenommen. Und wider Erwarten lehnte er nicht sofort ab, sondern sagte: Kommen Sie doch mal vorbei! Zusammen mit dem Vorsitzenden des Kirchbauvereins, des Kirchenvorstands und unserem Diakon, der Köders damals berühmtestes Werk „Das Mahl der Sünder“ kannte – von dem übrigens im Bensberger Pfarrsaal eine Skizze hängt – bin ich dann ins schwäbische Rosenberg gefahren, wo Sieger Köder Pastor war. Den Kreuzweg, den er dort für seine Pfarrkirche geschaffen hatte, fanden wir auf Anhieb sehr ansprechend.
Doch in unsere Begeisterung mischte sich die Sorge, ob der Künstler aufgrund seines fortgeschrittenen Alters das Werk denn auch würde vollenden können. Aber dieses Risiko schien mir angesichts dieser wunderbaren und anregenden Bilder, die ich da sah, doch vertretbar. Wir müssten Zeit haben, meinte Köder noch. Und dann dauerte es schließlich drei Jahre, bis 1992 die ersten beiden Stationen kamen. Fünf Jahre später waren dann auch die zwölf anderen fertig. Rückblickend erwies sich für uns seine Zusage zu diesem Projekt als großes Geschenk.
Vor zehn Jahren ist Sieger Köder mit 90 Jahren gestorben, er war also noch lange künstlerisch tätig – und das nicht nur als Maler, sondern auch als Schöpfer von Kirchenfenstern, Skulpturen und als Krippenbauer. Am 3. Januar dieses Jahres wäre er 100 geworden. Sie selbst waren ihm freundschaftlich verbunden. Was ist Ihnen von Ihren Begegnungen mit Ihrem Mitbruder besonders in Erinnerungen geblieben? Welcher Theologie sind Sie begegnet?
Janßen: Seine „Tübinger Bibel in Bildern“, die mir der Spiritual im Priesterseminar zu meiner Primiz geschenkte hatte und von der immer schon eine starke Faszination auf mich ausgegangen war, hatte ich zu diesem Zeitpunkt bereits sehr fruchtbar in der Jugendarbeit eingesetzt. Und auch Köders Altarbilder waren mir vertraut, so dass mir sein Werk immer präsent war und mir darin auch bereits seine Theologie begegnet war. Es hat mich fasziniert, dass er – wie ich selbst – von der Theologie des Zweiten Vaticanums geprägt war und er in seiner Kunst Theologie gepredigt hat – und zwar in einer sehr anrührenden und mich überzeugenden Weise. Als ich ihn dann persönlich kennenlernte, bestätigte sich das. Wir waren theologisch sofort auf einer Wellenlänge. Ich habe in ihm einen Pastor erlebt, der Gemeindeleitung als einen kooperativen Prozess verstand.
Er hat seine Kirchen und Gebäude in Rosenberg und Hohenberg nicht einfach illustriert, sondern band seine Gemeinde in laufende Prozesse stets mit ein. Sein Ansatz war stark partizipativ. Als in Rosenberg das Pfarrheim ausgemalt werden sollte, hat er zum Beispiel gefragt: Was wollen wir darstellen, was soll hier sichtbar werden? Oder aber er hat die dortige Krippentradition ausgebaut und gefördert und dabei Krippenlandschaften der unterschiedlichsten Art gestaltet – und das immer unter Einbeziehung der jeweiligen Gemeinde, deren Mitglieder ebenfalls künstlerisch tätig wurden, sich seine Art, Skulpturen zu schaffen, zu eigen machten, indem sie selbst mit Draht und Gips Figuren nach seiner Vorlage fertigten und so zu professionellen Skulpturisten erzogen wurden. Das war dann wie ein großes Seminar, was ich großartig fand. Jede klerikalistische Attitüde war ihm völlig fremd. Und das hat mich wirklich begeistert.
Immer wieder regt dieser Kreuzweg zu intensiver Betrachtung an. Auch Kinder stehen bei der Erstkommunionvorbereitung oder Kirchenführungen staunend vor den einzelnen Motiven. Was ist das Besondere an dem Bensberger Kreuzweg?
Janßen: Die Absicht dieses Kreuzwegs ist nicht, biblische Geschichte zu illustrieren – mal ganz abgesehen davon, dass der Kreuzweg in großen Teilen ja gar nicht biblisch ist, sondern der frommen Phantasie entspringt. Sieger Köder geht es darum, diese Leidensgeschichte in Verbindung zu bringen mit der Leidengeschichte des Betrachters und diese Übertragung auf die eigene Situation in historische Bezüge einzubetten. Das Kreuz steht also nicht nur für das Kreuz von Jerusalem damals, sondern für die unendlich vielen Kreuze in der Geschichte seither und für mein ganz persönliches Kreuz. Diese Vielschichtigkeit macht seinen Kreuzweg so gehaltvoll. Sie ermöglicht es, sich damit zu identifizieren.
Ich habe erlebt, dass Menschen vor manchen Motiven völlig gefangen standen, weil sie sagten: Das bin ja ich. Als bei einer Beerdigung einmal ein Mann seine behinderte Frau zu Grabe trug, wies er hin auf die Station von Jesus und Simon von Cyrene und meinte: Darin spiegelt sich meine eigene Geschichte, das Kreuz mitzutragen. Und so geht es einem mit vielen der Stationen. Bei bestimmten Bildern springt der eigene Resonanzboden an, bei anderen gar nicht. Oder er springt nur zu gewissen Zeiten an und dann wieder nicht. Das Krasseste ist ja, wo Jesus ans Kreuz genagelt wird. Hier wird am deutlichsten, wie der Künstler beabsichtigt, den Betrachter ins Geschehen hineinzuziehen. Jesus selbst ist auf dem Bild gar nicht sichtbar, vielmehr schaut man mit seinen Augen, aus seiner Perspektive. Das Bild thematisiert den Blick des Betroffenen auf eine umherstehende gaffende Menge, und nur im Ansatz sieht man die ausholende Hand des Henkers.
Vordergründig ist auf den einzelnen Bildtafeln oft gar nicht der Kern des einzelnen Motivs dargestellt. So sind bei der Station 2 „Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern“ beispielsweise nur das Händepaar und ein vertikaler Holzbalken zu sehen. Haben sich mit dieser eigenwilligen Bildsprache damals Ihre Erwartungen erfüllt?
Janßen: In der Tat musste ich erst einmal schlucken und mir von Sieger Köder erschließen lassen, was ihn dabei bewegt hatte. Zunächst gab es einen Schreckmoment, der aber ja etwas eröffnet hat. Wenn ein Bild den Erwartungen entspricht, passiert nicht viel. Aber mich betreffen und anrühren lassen, darüber nachdenken – das geschieht, wenn etwas meinen Erwartungen nicht entspricht, sondern ich erst einmal tief durchatmen und mich damit auseinandersetzen muss. Und diesen Prozess, der mit der Infragestellung meiner eigenen Sehgewohnheit einherging, fand ich äußerst spannend. Bis heute sage ich bei Führungen: Was ich daraus ablese, ist nur eine Schicht. Eine andere Schicht ist das, was der Künstler sagen wollte. Und dann sieht jeder Betrachter mit seiner eigenen Geschichte, mit seinem eigenen Resonanzboden, der jetzt angesprochen wird, etwas anderes, erlebt etwas anderes. Von daher ist dieser Kreuzweg eine Einladung, sich einzulassen und die eigene Geschichte dazu in Beziehung zu setzen. Das macht für mich seinen Wert aus.
Überraschend ist, dass das Kreuz, wie es uns vertraut ist, auf keiner der Bildtafeln zu sehen ist. Aber da geht Sieger Köder historisch vor: Der Deliquent trug damals nie ein Kreuz, sondern nur einen Balken, der dann an einem Gestell hochgezogen wurde. Hier, bei der 2. Station, sind es die Hände und dann die Querbalken im Hintergrund als Echo des Kreuzes und seine Aktualisierung, die mich bewegen. Sie erinnern an die Hinrichtungsschienen in Plötzensee – gerade erst haben wir des 80. Todestags von Dietrich Bonhoeffer gedacht – und an die Prozessionskreuze der südamerikanischen Campesinos, die mit schwarzen Tüchern für jeden Erschossenen behängt waren. Hier wird etwas angenommen, nicht weggedrückt oder weggeschoben, sondern gehalten – ausgehalten… Details wie die Hände rücken in den Vordergrund, was ganz typisch für Sieger Köder ist. Denn für ihn sagen Hände viel mehr als Gesichter.
Haben Sie so etwas wie ein „Lieblingsmotiv“; ein Bild, zu dem Sie einen besonderen Zugang entwickelt haben oder das Sie einfach „mitnimmt“?
Janßen: Eine große Nähe – wenn man so will – habe ich zu der letzten Station, die auch gleichsam das Osterbild ist. Da stellt der Künstler etwas dar, was gar nicht darstellbar ist. Er geht das Wagnis ein, etwas ganz Unanschauliches sichtbar zu machen: den Übergang vom Tod zum neuen ewigen Leben. Es ist nicht die Grabesruhe des Karfreitagabends, in die wir als Betrachter hineingenommen werden, vielmehr scheint es, als bräche schon ein Schimmer des Osterlichts in diese Grabhöhle ein, die sich in erdigem Braun über den Leichnam Jesu wölbt. Dieser liegt eingesponnen wie ein Kokon in einem Schacht, der an unsere Gräber erinnert, in die wir unsere Toten betten. Nur die Wundmale der Hände und der Seite schimmern noch blutig rot durch die Leichentücher. Das Dunkle dieser Gruft, die von einem schwarzen Rollstein verschlossen ist, wird von zwei Lichtquellen aufgehellt. Zum einen ist es, als bräche von außen durch einen Spalt über dem Stein schon das Morgenrot des anbrechenden Ostertages herein; zum anderen scheint es, als begänne der Leichnam Jesu von innen her zu strahlen. Da denke ich natürlich an die Verklärungsszene auf dem Berg Tabor. „Sein Gesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden blendend weiß wie Licht.“ Es ist, als wollte uns der Künstler zu Zeugen dieser österlichen Szene machen, zu Zeugen der Transformation des irdischen Jesus in den erhöhten Christus.
Wie erging es denn den anderen? Hat sich die Gemeinde damals von Anfang an mit „ihrem“ Kreuzweg identifiziert?
Janßen: Nein, wie gesagt, zunächst hat dieser offensichtliche Bruch mit bekannten Sehgewohnheiten einen Schock ausgelöst, mit dem ich die Gemeinde aber nicht alleine lassen wollte. Daher haben wir das schrittweise Eintreffen der Stationen über fünf Jahre dazu genutzt, Betrachtungen und Andachten anzubieten, um die ungewohnte Bildsprache verdaubar zu machen. Und da gab es dann schließlich doch den einen oder anderen Aha-Effekt, so dass sich allmählich ein Vertrautwerden entwickelte und aus der Beschäftigung mit dem Kreuzweg ein Dauerprozess wurde, in den auch sehr bewusst die junge Generation einbezogen wurde. Denn wenn keine Auseinandersetzung oder Pädagogik angeboten wird, bleibt das einfach nur ein Kunstwerk, was da hängt, hat aber für keinen mehr einen Bezug zum Leben.
Hilft ein solches Kunstwerk, Leiden und Sterben – gerade auch den Kreuzestod Jesu – besser zu verstehen?
Janßen: Der Kreuzweg ist ja das Produkt einer bestimmten kirchlichen Frömmigkeitsgeschichte. Und die Frage ist, ob sich Frömmigkeitsformen im Laufe der Zeit nicht überholen und der Kreuzweg dann nur noch das Echo einer vergangenen Frömmigkeitskultur ist oder auch heute noch von Relevanz sein kann. Bei diesem speziellen Kreuzweg habe ich die Erfahrung gemacht, dass Menschen sich durchaus ansprechen lassen, sie die leidvollen Situationen gleichsam für sich adoptieren, so dass sie dann zu richtigen Ankern und Bewältigungshilfen des eigenen Leids werden. Was ja heißt, dass diese Bilder irgendwo in ihnen eine Resonanz und darin einen gültigen Ausdruck ihrer eigenen spirituellen Situation gefunden haben müssen, sie von daher noch heute hochaktuelle Impulse sind.
Wie geht es Ihnen damit?
Janßen: Den Kreuzweg Jesu mitzugehen bedeutet, dem schöpferischen Wirken Gottes zuzutrauen, dass er auch unseren Tod besiegen kann; diesen Tod, der schon jetzt in vielfältiger Form unser Leben mindert, lähmt und mit Angst überzieht. Den Kreuzweg Jesu mitzugehen heißt aber auch, auf die Verheißung Gottes zu vertrauen, der uns sagt: „Ich öffne eure Gräber und hole euch, mein Volk, aus euren Gräbern herauf“, wie es im Buch Ezechiel heißt. Jetzt schon, und dann einmal – wie bei Jesus – für immer.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti