MISEREOR-Hungertuch: Du stellst meine Füße auf weiten Raum

Seit dem ersten Fastensonntag hängt in beiden Kirchen das diesjährige MISEREOR-Hungertuch. Es zeigt – künstlerisch verfremdet – die Röntgenaufnahme eines gebrochenen Fußes. Was es damit auf sich hat und welche Botschaft dieses Bild hat, wird in dem nachfolgenden Text von Claudia Kolletzki deutlich:

Was können wir mit unseren Füßen nicht alles machen! Unsere Füße tragen uns. Sie geben festen Stand. Wir marschieren und stampfen protestierend auf. Beim Spielen und Tanzen drücken wir mit ihnen unsere Freude aus und beim Pilgern lassen wir uns in die Weite Gottes tragen: „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“, heißt es in Psalm 31,9.

Unsere Füße sind neben den Knien die Körperteile, die am meisten beansprucht werden. Ist ein Fuß verletzt, sind wir unbeweglich und hilflos. Schauen wir auf das MISEREOR-Hungertuch von Lilian Moreno Sánchez mit dem Titel „Du stellst meine Füße auf weiten Raum – Die Kraft des Wandels“. Die Künstlerin ist in Chile geboren und lebt seit 1996 in Deutschland. Das Tuch besteht aus drei Teilen (Triptychon). Schwarze Linien zeichnen das Röntgenbild eines Fußes, der mehrfach gebrochen ist. Der Fuß gehört zu einem Menschen, der bei einer Demonstration in Santiago de Chile durch die Polizei schwer verwundet worden ist. Seit Oktober 2019 protestieren dort auf dem „Platz der Würde“ viele Menschen gegen ungerechte Verhältnisse. Tausende Demonstranten wurden durch die Staatsgewalt brutal geschlagen und verhaftet. Dieser Fuß mit den sichtbaren Verletzungen steht stellvertretend für alle Orte, an denen Menschen gebrochen und zertreten werden.

Das Bild entstand zu Beginn der Corona-Pandemie im Augsburger Atelier der Künstlerin. Auch ihr Heimatland Chile wurde schwer von dem neuartigen Virus getroffen. Existenzängste und die drohende Überforderung des Gesundheitssystems verschärfen die bestehenden politischen und sozialen Probleme. Lilian Moreno Sánchez ist in der Zeit der Diktatur groß geworden, die in Chile nicht wirklich aufgearbeitet wurde. Doch sie glaubt an Veränderung, die möglich wird, wenn man sich den Gewalterfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart stellt.

Lilian Moreno Sánchez hat ein Hungertuch mit wenigen Farben gestaltet und eine ungewöhnliche Grundlage verwendet: Es ist auf dreierlei Bettwäsche aus einem Krankenhaus und einem bayerischen Frauenkloster gemalt. Damit macht die Künstlerin deutlich: Es kommt auf die körperlichen und die seelisch-spirituellen Gesichtspunkte von Krankheit und Heilung an. Auf dem „Platz der Würde“ hat sie Staub eingesammelt und in die Laken gerieben. Der Stoff ist nicht glatt und makellos, graue Flecken und Falten überziehen ihn. Er ist vielfach übereinander gelegt, an Schnittmuster erinnernd, auseinander klaffend wie verletzte Haut und mit goldenem Zickzack wieder zusammengenäht, um Heilung zu ermöglichen.

Die schwarzen Linien des Röntgenbildes, die verwendeten Materialien Zeichen-Kohle, Staub und Leinöl, die karge Bildsprache verweisen auf das Sterben Christi und das Leiden der Menschen; dagegen stehen Gold und Blumen für Hoffnung und Liebe. Die Blumen aus Blattgold greifen das Muster der Kloster-Bettwäsche auf. Während das Röntgenbild die ganze Härte des Schmerzes zeigt, symbolisieren sie Kraft und Schönheit des neu erblühenden Lebens. Die Linien vermitteln neben aller Schwere auch ein Gefühl von Leichtigkeit. Sie scheinen zu tanzen: Leben ist ein Prozess, der weitergeht – auch mit verwundeten und gehemmten Füßen vertrauen wir auf die Kraft der Solidarität.

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum“– dieser Vers aus Psalm 31 steht als Titel über dem Hungertuch. Er beschreibt, was im Glauben alles möglich ist. Das Bild des Fußes lässt uns an Aufbruch, Bewegung und Wandel denken; das Bild des „weiten Raumes“ lässt uns aufatmen, wenn die Füße schwach werden. Der Psalm ist vor rund 2.500 Jahren entstanden, wohl in der Zeit des babylonischen Exils; in ihm werden Erfahrungen von Krankheit, Einsamkeit, Unterdrückung und Verzweiflung verarbeitet. Immer haben die Menschen Zuflucht bei Gott gesucht und gefunden. Aus der Enge der Angst blickten sie hinaus ins Weite und schöpften Kraft für einen Neubeginn – so wie die Betroffenen der Corona-Krise in Chile und weltweit den Aufbruch wagen und ihr Leben wieder neu aufbauen.

Gerade in der Fastenzeit sind wir eingeladen, umzukehren und für das gute Leben aller Menschen aufzustehen. Das Hungertuch kann uns berühren, so wie Jesus seine Freunde am letzten Abend berührt hat. Er wusch ihnen die Füße (vgl. Joh 13,4) als Zeichen dafür, dass sie zu ihm gehören und als Aufforderung, in seiner Nachfolge neue Wege zu den Menschen zu finden. Stärker als in dieser Geste lässt sich die unantastbare Würde nicht ausdrücken, die jedem Menschen zukommt.

MISEREOR sorgt sich um das gute Leben aller Menschen, besonders der Armen, und um den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Wir wissen, dass wir die Dinge ändern können. Beginnen wir jetzt einen Aufstand für das Leben!

Text – Claudia Kolletzki/MISEREOR

Foto – Beatrice Tomasetti