Interview mit Gereon Wagener zur Hilfe in Indien durch BONO

Indien ist das nächste große Land auf der Weltkarte, dem wegen der Pandemie der Kollaps droht. 1,3 Milliarden Menschen sind gefährdet. Erste Hilfsaktionen für die Schwächsten der Gesellschaft laufen bereits, darunter die der BONO-Direkthilfe.

Herr Wagener, eigentlich ist das Hauptthema Ihrer Arbeit Verschleppung und Zwangsprostitution von Mädchen und Frauen. Dafür arbeiten Sie von Deutschland aus mit Partnerorganisationen in Nepal, Bangladesch und Indien zusammen, wo Sie in den letzten 15 Jahren Rehabilitationszentren und Schutzhäuser errichtet haben. Nun aber hilft Ihr Verein auch in einer ganz anderen akuten Notsituation. Seit dem 25. März herrscht Ausgangssperre in Indien. Was bedeutet das für die Menschen dort?

Gereon Wagener (Vorsitzender des BONO-Direkthilfe e. V.): Millionen Tagelöhner und Wanderarbeiter, die von der Hand in den Mund leben und von einem Tag auf den anderen nicht mehr arbeiten durften, sind mit ihren Familien jetzt akut von Hunger bedroht. Durch die landesweite Ausgangssperre sind beispielsweise in Indiens Hauptstadt Neu Delhi Zehntausende Arbeiter arbeits- und obdachlos geworden. Am Stadtrand von Delhi und den Ausfallstraßen zum Nachbarbundesstaat Uttar Pradesh spielen sich dramatische Szenen ab, seit die Regierung diese drastische Maßnahme ergriffen hat und zur Durchsetzung der Ausgangssperre zum Teil auch mit martialischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung vorgeht.

Sie stehen im täglichen Telefonkontakt mit Ihren indischen Partnerorganisationen. Was erfahren Sie über die Situation im Land?

Wagener: Als die Sperre zur Beschaffung von Lebensmitteln noch einmal für einen Tag gelockert wurde, versuchten die Menschen verzweifelt, sich soweit mit Nahrungsvorräten einzudecken, dass das für die nächsten Wochen reicht. Das aber führte zu tumultartigen Überfällen in den Geschäften, vor denen sich die Händler nur schützen konnten, indem sie schließlich zumachten und die Ware nur noch durch einen Fenster- oder Türspalt abgaben. Das wiederum hatte natürlich zur Folge, dass sich die Preise für Reis, Linsen oder Gemüse verdoppelt oder sogar verdreifacht haben und der Schwarzmarkthandel floriert, was es den Ärmsten wiederum unmöglich macht, sich überhaupt noch versorgen zu können. Viele Menschen sind daher verzweifelt. Denn sie versuchen nun, zurück in ihre Heimatdörfer zu kommen, haben aber keine Einkünfte mehr, nichts zu essen und sind obendrein obdachlos. Die Not, die immer schon da war, verschärft sich dadurch für die meisten von ihnen.

Die BONO-Direkthilfe hat sich entschieden, hier akut Hilfe zu leisten. Wie sieht die aus? Und welchen Menschen kann der Verein damit konkret helfen?

Wagener: In Krisensituationen trifft es immer die Schwächsten einer Gesellschaft. Bei Corona ist das nicht anders. Wanderarbeiter, die zuvor in den Städten auf Baustellen als Lastenträger gearbeitet haben und niedrigste Dienste für etwa 180 Rupien täglich – das entspricht in etwa zwei Euro – ausgeführt haben, um den Unterhalt für ihre Familien zu verdienen, sind nun arbeitslos und wollen dorthin zurück, wo sie zuhause sind. Riesige Menschenmassen haben sich in den vergangenen Tagen zu Fuß auf den Weg gemacht, nachdem der öffentliche Personennah- und Fernverkehr wegen der Ausbreitung des Coronavirus eingestellt wurde. Unsere drei Partnerorganisationen in Indien – die Rescue Foundation, Chaithanya Mahila Mandali und New Light – haben bereits mit der Verteilung von Lebensmittelpaketen und Trinkwasser an die notleidenden Menschen begonnen. Mit Sondergenehmigungen helfen sie in den Slums und an den Ausgangsstraßen der Millionenstädte. Diese großartige Solidaritätsaktion unterstützen wir seitens der BONO-Direkthilfe mit Spenden.

Was genau sind das für Partnerorganisationen?

Wagener: Die „Rescue Foundation“ sucht in den indischen Rotlichtvierteln systematisch nach Opfern des Menschenhandels und der Zwangsprostitution, wobei sie gemeinsam mit der Polizei Rettungsaktionen durchführt. Im Moment sind die Mitarbeiter aber damit beschäftigt, Mahlzeiten und Trinkwasser an die Wanderarbeiter zu verteilen, die sich zu tagelangen Fußmärschen – und das zum Großteil nur mit Flip-Flops an den Füßen – auf den Weg machen: zum Beispiel von Mumbai nach Gujarat und Rajasthan. Märsche, die hunderte Kilometer lang sind. Außerdem versorgt die Rescue Foundation verarmte Dorfbewohner im Umfeld des Schutzzentrums in Boisar. Triveni Acharya, die Leiterin der Organisation in Mumbai, berichtet von Familien, die über 800 Kilometer zu Fuß zurücklegen müssen, um in ihre Heimat zu kommen. Sämtliche Geschäfte entlang der Highways sind aber geschlossen, so dass es für diese Menschen weder eine Übernachtungsmöglichkeit noch die Chance gibt, etwas zu essen zu kaufen. Die Mahlzeiten werden von den Frauen im Schutzzentrum vorbereitet. Sie tun dies hochmotiviert, weil sie selbst einmal Hilfe erfahren haben und nun froh sind, anderen Menschen in Not helfen zu können.

„Chaithanya Mahila Mandali“, eine andere Organisation, mit der wir schon lange vertrauensvoll zusammenarbeiten, hat allein an einem Tag 6000 Familien von Wanderarbeitern mit Mahlzeiten und Hilfspaketen – bestehend aus Kleidung, Decken und Moskitonetzen, die von den Mädchen im dortigen Kinderhaus vorbereitet werden – versorgt. Der Bedarf ist enorm groß, weil zehntausende Wanderarbeiter in Hyderabad gestrandet sind und keine Busse oder Züge mehr fahren. Geplant sind weitere Aktionen an den Ausfahrtsstraßen von Hyderabad sowie in den Armenvierteln der Stadt.

Wie sieht es in Kolkata, dem früheren Kalkutta und Hauptstadt des indischen Bundesstaates Westbengalen, aus, wo Mutter Teresa gewirkt hat?

Wagener: Auch hier gibt es bereits Initiativen von unserer Partnerorganisation „New Light“, die Lebensmittelpakete und Seife an die Familien in Kalighat, dem ältesten Rotlichtviertel in Kolkata, wo auch das Sterbehaus von Mutter Teresa steht, ausgibt. Ziel von New Light ist es, 5.000 Familien zu versorgen und damit rund 25.000 Menschen mit ihrer Hilfsaktion zu erreichen. Normalerweise kümmert sich New Light um die Kinder von Prostituierten, die auf der Straße leben und mit ihren Kindern zum Teil in winzigen Verschlägen hausen. Manchmal hocken die Kinder unter den Liegen, auf denen ihre Mütter die Freier empfangen. Das sind unvorstellbare Zustände. New Light setzt sich dafür ein, dass – wie es der Name schon sagt – diese Kinder nicht im Rotlicht, sondern in einem „neuen Licht“ groß werden können.

Sie sagen, die Menschen leben auf engstem Raum miteinander – vermutlich eingepfercht wie Vieh. Was steht als nächstes zu befürchten, wenn ein Land wie Indien – auch aufgrund seiner großen Gegensätze – kollabiert?

Wagener: Ich bin kein Epidemiologe, der Vorhersagen über die Ausbreitung des Corona-Virus auf dem asiatischen Subkontinent treffen kann, und noch sind die Fallzahlen der Infizierten und auch der Toten nicht so alarmierend wie in Europa und den USA. Trotzdem frage ich mich, wie lange die indische Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Religionen und dem immer noch bestehenden Kastensystem den Ausnahmezustand tolerieren wird, wenn die Geschäfte geschlossen bleiben, es am Nötigsten fehlt und viele Menschen, vor allem in den Slums, Hunger leiden. Dort gibt es ja auch kein Trinkwasser, und der Abwasserkanal verläuft offen zwischen den notdürftigen Behausungen, was bei den derzeit steigenden Temperaturen bis auf bald 40 Grad zusätzlich auch noch Krankheiten wie Typhus und das Dengue-Fieber begünstigen wird. Hygienevorschriften und Abstandsregeln, wie sie bei Corona laut Weltgesundheitsorganisation erforderlich sind, können Menschen, die so leben, nicht ansatzweise umsetzen. Ich habe selbst 2004 schon einmal über viele Wochen eine vergleichbare Situation im Nachbarland Nepal erlebt, als dort Bürgerkrieg herrschte. Daher weiß ich, dass eine wochenlange Ausgangssperre eine Herausforderung ist, die ein Land wie Indien mit seinen schwelenden religiösen Auseinandersetzungen und dem großen Gefälle von Arm und Reich – und jetzt erstrecht unter diesen erschwerten Bedingungen – kaum stemmen kann.

Das bedeutet konkret, wenn gerade alles still steht…

Wagener: …dass vor allem die Armen, Kranken und Alten, aber auch viele Kinder, die nicht gesund ernährt werden, bei einer Ausbreitung des Virus die Hauptleidtragenden sein werden. Indien handelt gerade nach dem Vorbild von China, Europa und den USA, wenn es alles dicht macht und den Verkehr zum Erliegen bringt. Doch es stellt sich die Frage, ob die vollständige Stilllegung des öffentlichen Lebens in einem Land wie Indien angesichts der beschriebenen Armut und Not weiter Bevölkerungsteile zum jetzigen Zeitpunkt die richtige Entscheidung ist. Zur Umsetzung der Maßnahmen geht die Polizei mit äußerster Härte, bei der auch Schlagstöcke zum Einsatz kommen, gegen die Zivilgesellschaft vor. Die Situation ist alarmierend.

Was können Sie angesichts dieser vielschichtigen Problemlage mit der BONO-Direkthilfe bewirken?

Wagener: Zunächst einmal können wir Aufmerksamkeit schaffen, Öffentlichkeit herstellen – wie wir es eigentlich immer mit unseren Aktionen tun – und den Blick für ein Land schärfen, das auf Hilfe wie die unsere angewiesen ist. Die Medien richten ihren Fokus momentan verständlicherweise auf die Herausforderungen im eigenen Land sowie auf die Länder Italien, Frankreich, Spanien und die USA. Das führt zwangsläufig dazu, dass andere Länder, die vielleicht schon bald ebenfalls vor nicht zu bewältigenden Aufgaben – und zwar nicht nur im Gesundheitswesen – stehen, quasi ausgeblendet werden. Indien aber könnte vielleicht schon morgen im Fokus stehen. Und daher werden wir uns auch weiterhin mit aller Kraft für die Frauen und Kinder in unseren Projekten sowie die notleidenden Menschen in Indien, Nepal und Bangladesch einsetzen und unsere Partnerorganisationen in diesen schweren Zeiten bestmöglich unterstützen. In Anbetracht der großen Not und des Leides können wir doch nicht einfach so zusehen.

Text – Domradiobeitrag vom 7. April
Foto – Rescue Foundation