Geflüchtete vermissen zu Weihnachten ihre Angehörigen

Über eine Million Ukrainer sind bisher vor russischen Bomben nach Deutschland geflüchtet. Zu Weihnachten bangen sie um ihre Verwandten, die in der Heimat zurück geblieben sind. Für alle wird Weihnachten diesmal ganz anders.

Als Svitlana Marchuk „Stille Nacht, heilige Nacht“ auf Ukrainisch anstimmt, wird es im Bensberger Treffpunkt mit einem Mal ganz still. Verstohlen wischt sich Ali Arif, der Anfang März mit seiner sechsköpfigen Familie aus Luhansk geflohen ist und seine gesamte Existenz verloren hat, Tränen aus den Augen. Auch die anderen, die an weihnachtlich gedeckten Tischen Plätzchen essen und Glühwein trinken, kämpfen mit ihren Emotionen. Sogar die Kinder halten inne und lauschen aufmerksam den vertrauten Klängen aus der Heimat. Melancholisch sind diese Melodien, die auch die Gastgeberinnen Mechtild Münzer, Roswith große Oevermann und Monika Schmidt von der Ukraine-Hilfe zutiefst anrühren. Plötzlich verdichtet sich in dieser wehmütigen Musik das ganze Ausmaß der ukrainischen Tragödie, macht die nach wie vor unfassbare Trauer über den Verlust von Heimat, aber auch die Angst um die, die in den Kriegsgebieten zurückgelassen werden mussten, zum Greifen nahe. Kaum einem gelingt es, seine Gefühle zu beherrschen.

Noch schwerer drückt das Lied aufs Gemüt, in dem die Sängerin die „Liebe zur Ukraine“ beschwört und zum Mitsingen des Refrains animiert. Und wenn es um den Nationalstolz geht, lässt sich niemand lange bitten. Am Ende singt aus tiefstem Herzen der ganze Saal und Svitlana legt immer noch einen drauf. Die Stimmung erreicht mit ihrem Auftritt an diesem Nachmittag ihren Höhepunkt, als die Musik fröhlicher wird. Und einen Moment lang ist es so, als sei der Krieg mit all seinem Leid für einen Augenblick weit weg ist. Zumindest so lange, wie die Mutter von zwei Kindern zu ihren eigenen Liedern tanzt und ein Stück Hoffnung verbreitet, dass eines Tages die Lebensfreude wiederkommt und eine Rückkehr nach Charkiw, Dnipro, Odessa oder Kiew möglich sein wird. „Wir haben nur eine Heimat“, wiederholt Svitlana unter dem Beifall ihrer Zuhörer derweil eine ihrer Liedzeilen.

Wenige Tage vor Weihnachten ist eine solche von der Gemeinde ausgerichtete Nikolausfeier Balsam für die Seele. Das ist deutlich zu spüren. Denn in der Gemeinschaft von Mitbetroffenen erleben die Anwesenden Stärkung, versichern sich gegenseitiger Solidarität, tauschen Nachrichten von Zuhause aus und erfahren vor allem, dass man mit seinen trüben Gedanken, die bei den Liebsten daheim sind, wo vielleicht gerade niemandem nach Besinnlichkeit ist, nicht alleine bleibt. „Außerdem ist der Heilige Nikolaus – auf Ukrainisch Mykola – auch in der Ukraine populär“, erklärt Mechtild Münzer, die mit Johannes Bernhauser einen „echten“ Nikolaus organisiert hat. Mit Stab und Mitra erzählt dieser Groß und Klein mit einfachen Worten auf Deutsch aus dem Leben des Bischofs von Myra und teilt später an jedes Kind eine Tüte mit Süßigkeiten aus.

Sichtlich bewegt von dieser Geste zeigt sich Iryna Liutikova. Sie stammt aus Krycyi Rig in der Ostukraine. Dort hat sie ihre Eltern, eine Schwester und ihren Mann Mykola, den sie seit dem 15. März nicht mehr gesehen hat und der nicht ausreisen darf. „Wir werden Weihnachten zum ersten Mal getrennt voneinander feiern“, berichtet sie. „Allein der Gedanke daran tut so weh, dass ich ihn verdrängen muss, sonst weiß ich nicht, wie ich das überstehen soll – auch um es den Kindern nicht allzu schwer zu machen, wenn sie mich weinen sehen.“ Zum Glück könnten die beiden mit ihrem Vater per Videocall Kontakt halten. Aber das sei zu Weihnachten, wo sie doch sonst immer in der Großfamilie zusammenkämen, nur ein schwacher Trost.

Trotzdem wolle sie versuchen, so erzählt Iryna, die ukrainische Weihnachtstradition auch in Deutschland aufrechtzuerhalten und die zwölf Fastenspeisen mit den typisch russisch-ukrainischen Pirozhki, den kleinen mit Weißkohl und Zwiebeln gefüllten Teigtaschen, oder Kutja, das wichtigste Gericht am Heiligabend aus gekochten Weizenkörnern, Mohnsamen, Honig, Rosinen und Nüssen zuzubereiten. „Egal wie gläubig man ist, solche Traditionen halten die Familie zusammen und müssen von Generation zu Generation weitergegeben werden“, betont die 40-Jährige. Wären sie zuhause, würden sie zu Weihnachten Verwandte und Nachbarn besuchen. „Man geht dann von Haus zu Haus, isst überall eine Kleinigkeit, bringt aber ebenso etwas Leckeres mit“, erklärt Iryna. Auch in der Ukraine sei Weihnachten eben ein Familienfest. Allerdings erst wenn der erste Stern am Himmel aufleuchte, der nicht unbedingt sichtbar sein müsse, beginne die Mahlzeit: wie gesagt mit insgesamt zwölf Gerichten – eine Referenz an die zwölf Apostel. „Das Essen spielt nach einer mehrwöchigen Fastenzeit eine große Rolle“, sagt Iryna über dieses wichtige Ritual.  

Und auch ein Tischgebet, das dem ältesten Familienmitglied vorbehalten bleibe, gehöre zum Weihnachtsabend dazu. „Als Familie verbinden wir uns mit den Lebenden, aber auch mit unseren Toten“, so Iryna. Deshalb stehe auch immer einer leerer Teller mit Besteck im Fenster, so dass die verstorbenen Ahnen sich am Essen bedienen könnten. „Und nach dem Essen singen wir dann mit den Kindern Weihnachtslieder. Schon jetzt eine traurige Vorstellung, weil wir dabei vor allem an unseren Papa denken.“

Auch Familie Nadenenko aus Charkiw hat daheim eine große Verwandtschaft und vor dem Krieg immer mit bis zu 20 Angehörigen Weihnachten gefeiert. „Erst einen Monat vor Ausbruch des Krieges haben wir uns noch ein Haus gekauft. Zu Weihnachten wollten wir darin zum ersten Mal groß feiern“, erzählt Zarina, die mit ihrem Mann Andrij und den Kindern Nikita, 9, und Oleksii, 17, inzwischen in Bergisch Gladbach eine eigene Wohnung bezogen hat, sich aber nach Hause zurücksehnt und Deutschland verlassen will, sobald der Krieg aus ist. „Auf Fotos habe ich gesehen, dass nun alle Fenster von den Raketeneinschlägen geborsten sind.“ Angesichts der schrecklichen Zerstörungen in Charkiw könne sie nicht in Worte fassen, was sie fühle, wenn sie an das bevorstehende Fest denke. „Mir fehlt meine Familie, die im Krieg ohne Strom und Heizung ausharren muss.“ Und Nikita vermisse die Freunde seiner Fußballmannschaft, auch wenn die großartige Gastfreundschaft der Deutschen ihnen über das Schlimmste hinweghelfe.

Als Larysa Kryzhevska auf Weihnachten angesprochen wird, füllen sich ihre Augen wie auf Knopfdruck mit Tränen. Mit ihren drei Töchtern zwischen elf und 19 Jahren ist die gelernte Erzieherin aus der umkämpften Gegend von Dnipro geflüchtet und gesteht: „Es tut sehr weh, Weihnachten in einem fremden Land zu verbringen. Eigentlich bin ich überhaupt nicht in Stimmung. Hier ist einfach nichts wie zuhause. Wenn ich trotzdem Weihnachten feiere, dann nur der Kinder wegen.“ Nach zehn Monaten Krieg tue ihnen eine Aufmunterung gut.

In der Regel sei sie um diese Zeit immer als Mitglied eines „Vertep“, einer Art wanderndem Krippenspiel oder auch Folklore-Theater unterwegs, mit dem man auf dem Land von Dorf zu Dorf ziehe und bei dem die Geburt Jesu nachgestellt werde. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das je verpasst hätte. Schon als Kind durfte ich den Engel spielen, später dann in wechselnde Erwachsenenrollen schlüpfen.“ Das Traurigste sei, dass in diesem Jahr alles, was für sie Weihnachten ausmache, wegfalle. In ihrem Herzen sei sie daheim bei ihren Landsleuten in der Ukraine, für die das Fest des Lichts und der Liebe diesmal zu einem Fest der Kälte und Dunkelheit werde. „Die Aussichten für die Festtage sind in weiten Teilen des Landes jedenfalls buchstäblich düster.“

Text und Foto – Beatrice Tomasetti