Sieben Monate hat es Vadim in Charkiw ohne seine Frau ausgehalten. Inzwischen hat diese in Bergisch Gladbach das erste gemeinsame Kind zur Welt gebracht. Aber die Wiedersehensfreude währt nur kurz. Er muss zurück in den Krieg.
Zärtlich wiegt Vadim das kleine rosa Bündel in seinen Armen. Immer wieder streichelt er seiner gerade mal zehn Tage alten Tochter über den Kopf, drückt sie behutsam an sich oder küsst sie sachte auf die Stirn. Ginge es nach ihm, würde er Amina gar nicht mehr loslassen. Jede Minute mit seinem Kind ist für den jungen Vater kostbar. Sowie auch die Zeit mit seiner Frau Olena, die er seit Anfang März nicht mehr gesehen hat. Der Krieg in ihrer Heimatstadt Charkiw, dem ersten militärischen Ziel des russischen Angriffs, hat das Paar monatelang brutal getrennt. Kontakt konnten die beiden in dieser Zeit nur über Videocalls halten.
Doch bei jedem Anruf Vadims aus der ukrainischen Heimat zuckt Olena unwillkürlich zusammen. Immer schwingt bei ihr panische Angst mit, wenn sie am anderen Ende der Leitung die Einschläge von Raketen hört. „Ganz furchtbar ist, wenn ich im Hintergrund das Bombardement oder die Schüsse in unmittelbarer Nähe mitbekomme“, berichtet die 34-Jährige, die sich kurz nach Beginn des militärischen Einmarsches auf Drängen ihres Mannes zur Flucht entschließt und zu einer Odyssee aufmacht, bis sie Anfang März die deutsche Grenze passiert und sich in Sicherheit wägen kann.
Lange Monate des Wartens, Ausharrens und Bangens, wie sich die Lage in den umkämpften Gebieten wohl für die Menschen dort weiterentwickelt, sind seitdem vergangen. Doch längst ist klar, der Kriegszustand wird auf unabsehbare Zeit anhalten; die Kämpfe sind unerbittlich grausam und fordern auf beiden Seiten viele Menschenleben. Einen normalen Alltag – wie zu Friedenszeiten – gibt es für die meisten Ukrainer nicht mehr. Vielmehr ist für sie der Krieg so etwas wie die neue Normalität geworden. Das erleben auch Olena und Vadim, die inzwischen Eltern geworden sind und sich nach nichts mehr sehnen, als zu dritt zusammenbleiben und eines Tages mit ihrer kleinen Tochter nach Charkiw zurückkehren zu können.
Doch daran ist im Moment kein Denken: Die Infrastruktur der zweitgrößten Stadt der Ukraine, vor dem Krieg mit über 40 Universitäten und Hochschulen eines der bedeutendsten Wissenschafts- und Bildungszentren des Landes, ist zu weiten Teilen zerstört, darunter ganze Straßenzüge, Schulen und Krankenhäuser. In den zurückeroberten Gebieten rund um die Stadt haben die meisten Bewohner kaum Zugang zu Nahrungsmitteln, Gas, Strom oder medizinischer Versorgung. So erzählt es auch Vadim, der von einer Terrorisierung der Zivilbevölkerung spricht und dass 50 Prozent der Gebäude unbewohnbar seien. Von den einst anderthalb Millionen Einwohnern wären gerade mal 500.000 geblieben, hauptsächlich Männer. Und das, weil sie müssen. Oft gebe es kein fließendes, geschweige denn warmes Wasser, zumal meist die Stromleitungen nicht funktionierten. Und natürlich falle dann auch das Internet aus und jetzt im eiskalten Winter außerdem die Heizung, was sicher zu neuen Fluchtbewegungen weg aus Charkiw führe.
„Ich habe mich daran gewöhnt, dass vieles nicht mehr geht“, sagt er Schulter zuckend. „Und auch daran, dass Geschosseinschläge in unmittelbarer Nachbarschaft oder explodierende Abwehrsysteme am Himmel jetzt zu unserem Leben dazu gehören.“ Anderen ginge es ja nicht anders. Dann zeigt er auf seinem Smartphone Bilder von Leuchtfeuern am Horizont. „Das ist unsere Realität“, kommentiert er bitter. „Was wie ein idyllischer Sonnenuntergang aussieht, ist in Wirklichkeit das ukrainische Raketenabwehrsystem.“ Zu einem kurzen Video, auf dem deutlich vernehmbar Kampfhandlungen zu hören sind, erklärt er: „Das war einmal das Geburtshaus, in dem meine Frau unsere Tochter entbinden sollte. Heute liegt es in Trümmern.“
Der 32-Jährige hat in der Ukraine einen Internet-Vertrieb für Gartenbedarf und Agrarartikel. Da er seinen todkranken Vater pflegt, ist er vom Kriegsdienst befreit, hilft aber freiwillig überall da, wo in diesen schweren Zeiten Not am Mann ist und der Ausnahmezustand vielen Menschen das Leben unerträglich gemacht hat. Die Lage der Zivilbevölkerung sei katastrophal, berichtet Vadim. Die Ausreiseerlaubnis nach Deutschland habe er nur bekommen, weil er sich für den Transport von Hilfsgütern gemeldet habe. „Wenn mein Vater nicht wäre, würde auch ich kämpfen und mein Land mit Waffen verteidigen. Aber er braucht mich. Deshalb zieht es mich auch schon bald wieder nach Hause.“
Was er dabei fühlt, wenn er seine Tochter betrachtet? „Das lässt sich nicht beschreiben. Für diese Freude und Liebe gibt es keine Worte. Das ist überwältigend.“ 2500 Kilometer Autofahrt hat der junge Vater dafür auf sich genommen. Fast non stopp ist er die Strecke durchgefahren – das erste Stück durch die Ukraine meist auf unbefestigten Straßen ohne Ortsschilder oder sonstige Wegweiser. Man hat sie entfernt, um den gegnerischen Truppen die Orientierung zu nehmen. „Nach den ersten Fotos aus dem Kreißsaal und vielen Freudentränen gab es kein Halten mehr“, erzählt er. „Ich hatte nur noch ein einziges Ziel, auch wenn ich bei meiner Ankunft in Deutschland erstmal völlig fertig war.“
„Wir haben so sehr auf unseren Papa gewartet“, gesteht Olena und nimmt ihren Mann liebevoll in den Arm. „Im ersten Moment habe ich ihn kaum wiedererkannt. Der Krieg verändert die Menschen. Vor allem ihre Seele“, sagt sie leise. „Und selbst nach neun Monaten wirkt der russische Angriff noch immer wie ein Schock.“ Dünnhäutiger sei Vadim in dieser Zeit geworden. Dabei könnten sie noch dankbar sein: Alle in ihrer Familie daheim seien bislang am Leben geblieben. Andere dagegen – Nachbarn und Freunde – hätten Tote zu beklagen. „Wir haben uns noch“, stellt die schlanke junge Frau mit dem langen schwarzen Haar fest und ergänzt mit Tränen in den Augen: „Das ist in diesen fruchtbaren Zeiten und angesichts der vielen Opfer ein unschätzbares Glück. Auch wenn es brüchig ist.“
Weihnachten werden die beiden getrennt voneinander verbringen. „Dabei ist es eigentlich doch wichtig, an diesem Familienfest zusammen zu sein“, erklärt Olena. „Zuhause warten sehnsüchtig die Großeltern und wollen ihr Enkelkind kennenlernen, aber wir sind gezwungen, erst einmal so weiter zu machen wie bisher: ich in einem fremden Land, Vadim in der Ukraine.“ „Ich mag Deutschland sehr und bin Familie Brochhaus, die Olena bei sich aufgenommen, ihr und unserem Baby ein Dach über dem Kopf gegeben hat, zutiefst dankbar“, sagt Vadim dazu. „Aber mein Leben ist in der Ukraine, und ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass wir eines Tages wieder alle zusammen in Frieden in Charkiw leben werden. Davon träume ich.“
Und Trauer, dass er bald schon wieder zurück muss – in den Krieg? „Nein, keine Trauer. Eher Wut gegen Putin, sein Regime und seine Leute. Eine unbändige Wut“, betont der junge Mann, der wie viele seiner Landsleute fließend Russisch und Ukrainisch spricht, entschieden. Mehr aber kommentiert er nicht dazu. Jedes Wort über den menschenverachtenden Kriegstreiber in Moskau ist ihm zu viel. Wieder liebkost er seine Tochter und lächelt Amina an. „Im Moment zählt nur, dass wir alle drei zusammen und in Sicherheit sind. Diesen Frieden zu spüren tut gut.“
Der Name Amina hat seinen Ursprung im Arabischen und bedeutet so viel wie „Frau des Friedens, der Harmonie, der Sicherheit“. Auch mit Stärke und Unversehrtheit wird er übersetzt. Das sind Wünsche, die das Elternpaar seinem Kind auf jeden Fall mitgeben will. „Wir hätten nie gedacht, dass wir unter solchen Umständen einmal unsere Familie gründen“, räumt Vadim noch ein. Bis heute fragten sie sich: Warum wir? Warum Krieg ausgerechnet in der Ukraine? Natürlich falle ihnen beiden schwer, nun wieder Abschied voneinander nehmen zu müssen. „Das Schlimmste aber ist die Ungewissheit, ob und wann wir uns wiedersehen.“
Text – Domradiobeitrag vom 4. Dezember/Beatrice Tomasetti