Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt

Die Erwartungen, die Eltern an eine Schwangerschaft knüpfen, sind oft groß. Voller Vorfreude malen sie sich aus, wie ihr Kind wohl sein wird. Und dann kommt alles anders. Ein Unfall, ein Schicksalsschlag, ein Verbrechen durchkreuzt jeden Plan.

Was wird aus diesem Kind wohl einmal werden? Welche Rolle wird es einnehmen, welche Erwartungen erfüllen oder auch nicht? Wem wird es gleichen, welche Talente wird es haben? Wird es etwas bewegen in seinem Leben? Oder scheitern und eine große Enttäuschung sein? Das sind Fragen, die Eltern umtreiben, die mit großer Vorfreude der Geburt ihres Kindes entgegensehen. Kinder bedeuten Hoffnung in einer bedrohten Welt; sie sind die Zukunft und ein Versprechen, dass es weitergeht, heißt es oft. Daher sind die Kleinsten – kaum geboren – am schützenswertesten; ihnen gilt alle Aufmerksamkeit, alles Verständnis und alle Liebe. Im Idealfall.

Auch auf das Kind im Stall von Bethlehem vor mehr als 2000 Jahren richteten sich große Hoffnungen. Hineingeboren in eine äußere Armseligkeit, in das Dunkel einer Nacht, sollte es trotz widriger Startbedingungen zum Heilsbringer und Erlöser werden, die Herrschaft über ein Reich – jenseits allen menschlichen Denkens – übernehmen. Welche Verheißung! Aber die Freude ist nicht ungetrübt, hält vielleicht nur wenige Stunden oder Tage – dann trachtet der Familie in ihrer vermeintlichen Idylle, vor allem aber ihrem Neugeborenen, jemand nach dem Leben.

Wird es die politische Macht an sich reißen, die ihm nicht zusteht – wie König Herodes glaubt – und dessen eigene ehrgeizigen Pläne zunichte machen? Er schickt seine Soldaten aus, diesen unbekannten Königssohn, den er als Bedrohung empfindet, zu töten. Dabei ist doch das Reich dieses unschuldigen Neugeborenen in der Krippe nicht von dieser Welt. Gott hat etwas ganz anderes mit diesem Kind vor. Doch Herodes sieht sich von einem Konkurrenten in die Ecke gedrängt und gibt aus Angst vor Machtverlust den Befehl zu einem grausamen Verbrechen, das zahllose Familien in großes Elend und Verzweiflung stürzt. Eltern, die voller Freude über die Geburt eines männlichen Nachkommen sind, schreien vor Schmerz. Für viele stirbt mit dem Mord an ihrem Kind ihre eigene Zukunft.

Auch in diesen Tagen wiederholen sich solche Verbrechen. Und überall auf der Welt sterben Kinder: an Hunger, mangelnder medizinischer Versorgung, auf der Flucht oder durch die Hand von Gewalttätern und Terroristen. Manche sterben auch einen Unfalltod oder sind im wahrsten Sinne des Wortes lebensmüde. Dann geben die Eltern oft mit dem Tod ihres Kindes einen wesentlichen Teil ihrer selbst und auch ein Stück Zukunftsperspektive auf. Halten aus, was kaum auszuhalten ist. Da ist ihnen nach allem, nur nicht nach fröhlichen Weihnachtsliedern unter dem Tannenbaum. Sie versinken in Trauer und Verzweiflung. Ihnen wird der Boden unter den Füßen weggezogen.

Wenn Menschen uns verlassen, sie aus unserer Mitte gerissen werden, wir ihren Tod und das Unglück, das damit über uns hereinbricht, nicht begreifen können – dann bleibt uns das Vertrauen in dieses Kind in der Krippe, durch das uns verheißen ist, dass der Tod nicht das letzte Wort hat, mit ihm nicht alles aus ist. Die dunklen Schatten gehören zu den Lichtern des Weihnachtsfestes. Darum ist es so wichtig, gerade auch zu Weihnachten all derer zu gedenken, die im Jahr 2020 auf der ganzen Welt ohne Hoffnung leben. Darum gehören zum Weihnachtsfest auch das Gebet und der Einsatz für die Menschen in Not: für die Geflüchteten des Lagers Kara Tepe auf Lesbos oder den Schiffbrüchigen in ihren Nussschalen auf dem Mittelmeer, für die Opfer der Covid-Infektionen auf den Intensivstationen oder für die viel zu vielen Toten von Hass und Ungerechtigkeit.

Weil Gott in Jesus Christus bedingungslos Partei ergreift für die Menschen, darum gehört das Dunkle zur frohen Feier der Weihnacht, gehört zur Krippe von Bethlehem auch das Kreuz von Golgatha. Echte weihnachtliche Freude weiß um ihre Verletzlichkeit. Sie vergisst nie, dass weihnachtlicher Jubel immer eng verbunden ist mit der maßlosen Trauer, die früher oder später unausweichlich ist. Die beiden wichtigen Symbole des christlichen Glaubens – Krippe und Kreuz – bilden eine Einheit. So wie in jedem Leben Anfang und Ende – geboren werden, um zu sterben – zusammen gehören.

Und trotzdem: „Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Er wird die Herrschaft übernehmen“, so schreibt es Jesaja etwa 730 Jahre vor Christus auf – auch als eine Botschaft des Trostes, die in der alttestamentlichen Lesung der Heiligen Nacht wieder zu hören sein wird. Denn dieses Kind begleitet ein guter Leumund. „Man nennt ihn ‚wunderbarer Ratgeber’, ‚starker Gott’, ‚ewiger Vater’, ‚Friedensfürst’.“ Später ist sich der Apostel Paulus sicher: Nur auf das neugeborene Kind in Bethlehem können solche Beinamen zutreffen. Mit ihm wird alles gut werden. Darauf wollen die Menschen vertrauen.

Auch 2000 Jahre später leben wir noch von der Hoffnung, dass nun endlich jemand kommt, der alles verändert, zum Guten wendet: der Immanuel – zu Deutsch: Gott mit uns. Adventsbräuche, Weihnachtsgesänge und die überlieferten Geschichten vom Ankommen Gottes in dieser Welt spiegeln auch heute noch die tiefmenschliche Sehnsucht nach einem friedvollen Zusammenleben ohne Leid und Schmerz: nach einem solchen Immanuel. Doch lässt sich dabei nicht ausblenden, dass viele Menschen in diesen Tagen keinen Grund zur Hoffnung oder gar Freude haben, die die nahenden Feiertage verbreiten wollen.

Am „Fest der Familie“ spüren sie umso schmerzhafter die eigene Einsamkeit oder die Trennung von einstmals nahe stehenden und nun verlorenen Menschen. Am „Fest der Gemeinschaft“ wird manchen umso bewusster, wie groß Armut, Not und Hoffnungslosigkeit auf der Welt sind und wie wenig der Zusammenhalt und die Solidarität mit den Schwächsten in der großen Menschheitsfamilie tragen.

Weihnachtliche Freude bleibt daher oberflächlich, wenn der Blick nur auf das Kind in der Krippe gerichtet wird und dabei völlig aus dem Fokus gerät, dass sich dieses Leben erst vollendet mit einem so qualvoll erlittenen Tod am Kreuz. Krippe und Kreuz, Freude und Leid gehören zusammengedacht. Das Geheimnis von Weihnachten wird nur verstanden, wenn sich die Bruchstücke menschlichen Daseins im Angesicht Gottes – am Ende eines irdischen Lebens – zusammenfügen und vor Gott letztlich alles heil wird, was auf der Erde unvollkommen geblieben ist. Wenn der Mensch vor Gott das wird, was er ursprünglich hätte werden sollen.

Nur mit einem solchen Glauben lässt sich aushalten, dass sich nicht immer die Erwartungen, die Eltern mit der Ankunft eines Kindes verbinden, erfüllen und es einen schier unerträglichen, ja unmenschlichen Schmerz bedeutet, wenn es weit vor der Zeit sein Leben vollendet. Bereits im Augenblick seiner Geburt lassen sie sich auf ein großes Abenteuer, aber auch die Gefahr ein, es nicht vor allem bewahren zu können und mit ihm oder wegen ihm großes Leid zu erfahren.

„Was wird wohl aus ihm werden?“, fragen sich zu allen Zeiten die Menschen bei der Geburt eines Kindes. Diese Frage werden sich auch Maria und Josef gestellt haben. Ein Kind nicht formen nach dem eigenen Willen, sondern es sich offenbaren lassen mit allem, was in ihm verborgen liegt und ans Licht will. Darin waren sie gefordert, um dann das Schlimmste aushalten zu müssen. Ein Kind nicht als Eigentum, als eigenes Werk betrachten, sondern als ein Geschenk, ein Geheimnis, das den eigenen Eltern zuweilen auch fremd bleibt, und es trotzdem nach besten Kräften in allem unterstützen: ihm Liebe und einen Ankerplatz im Leben geben, damit es nicht verloren geht. Solange Zeit dafür ist. Denn manchmal müssen Eltern auch das ersehnte Kind unmittelbar nach der Geburt aus der Hand an den zurückgeben, dem sie es verdanken: Gott. Aber lieben können sie es trotzdem – was die heiligste Aufgabe von Müttern und Vätern ist. Über die eine Stunde, den einen Tag, manches Jahr hinaus – ihr Leben lang.

„Ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns geschenkt“ – mit dieser Zusage haben wir etwas, an dem wir uns aufrichten können in den Nächten unseres Daseins, womit wir eine Ahnung von ewigem Frieden bekommen, Orientierung und so etwas wie Seligkeit finden. Doch es bleibt eine Herausforderung, auf diese Verheißung zu setzen. Weihnachten – das ist das Fest der bedingungslosen Parteinahme Gottes für seine Schöpfung und jeden Einzelnen. Wir müssen diesem Gedanken nur unser Herz öffnen.

Text und Foto – Beatrice Tomasetti