Dokumentation der Predigt von Pfarrer Kirchner am 23. Januar

Am vergangenen Sonntag hat Pfarrvikar Elmar Kirchner die aktuellen Nachrichten zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche während der Abendmesse in seiner Predigt aufgegriffen. Seine Ausführungen sind nachfolgend im Wortlaut dokumentiert:

Die Situation ist wirklich dramatisch. Kaum ein Tag vergeht, an dem uns nicht wieder neue Hiobsbotschaften erreichen. Skandal um Skandal dringt ans Tageslicht. Und der gegenwärtige Apostolische Administrator sprach am vergangenen Buß- und Bettag sogar öffentlich in einem Bußgottesdienst im Kölner Dom davon, dass er der Chef „der Täterorganisation Erzbistum Köln“ sei.

Unsere katholische Kirche, liebe Schwestern und Brüder, befindet sich seit mehr als zehn Jahren in sehr, sehr stürmischen Zeiten. Daran kann kein Zweifel bestehen. Die unrühmliche Vergangenheit des jahrzehntelang praktizierten Umgangs mit sexuellem Missbrauch durch Bischöfe, Priester, Diakone und andere kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter holt uns unerbittlich ein. Und wie immer ist es bitter und schwer zu ertragen, den Spiegel des eigenen Versagens vollkommen zu Recht vorgehalten zu bekommen.

Bischöfe bitten den Papst um ihre Entpflichtung, weil sie öffentlich mit schwerwiegenden Vorwürfen der Vertuschung und anderer Pflichtverletzungen konfrontiert werden. Einige Bischöfe werden in „geistliche Auszeiten“ geschickt, andere müssen trotz gravierenden Fehlverhaltens unverzüglich ihr Amt weiterhin ausüben.

Wenn Vorwürfe sexuellen Missbrauchs aufkommen, werden Kleriker – gottlob – inzwischen unverzüglich suspendiert – bis zur endgültigen Klärung der Sachverhalte. Wohl kaum einer der so Beschuldigten kann später wirklich rehabilitiert werden, insofern sich herausstellt, dass die Vorwürfe, die im Raum standen, unwahr sind, was aber, zugegebenermaßen, nur sehr selten der Fall ist.

Der angerichtete Schaden ist unermesslich, besonders für die Opfer und für alle, die zu ihnen gehören… und auch für unsere ganze Kirche. Vertrauen ist nachhaltig, bei einigen gewiss auch unwiederbringlich, zerstört. Da klingt der Satz, den wir eben ganz am Ende der ersten Lesung hörten, wie aus einer ganzen anderen, weit entrückten Sphäre: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke.“ (Neh 8, 10c)

Wie soll das möglich sein: „Macht euch keine Sorgen“? Klingt das in der aktuellen Situation nicht sogar zynisch? Angesichts des erschreckenden und zutiefst verstörenden Inhalts der neuesten Veröffentlichungen zur Vertuschung von sexuellem Missbrauch komme ich da innerlich nicht mit. Wie geht es Ihnen mit dieser Aufforderung des Lesungstextes? Irgendwie klingt mir der Satz wie eine oberflächliche Vertröstung. Kann das so gemeint sein?

Schauen wir auf die Situation, in der dieser Bibeltext entstanden ist. Das Buch Nehemia, aus dem unsere heutige erste Lesung entnommen ist, erzählt – genauso wie das Buch Esra – „von einer entscheidenden Zeit in der Geschichte des Volkes Gottes, dem Neuanfang nach dem babylonischen Exil“.

Erst Jahrzehnte nach dem Ende des Babylonischen Exils, der größten Katastrophe in der Geschichte des altbundlichen Gottesvolkes, durfte das Volk Israel nach Jerusalem zurückkehren. Dem vorausgegangen waren die Zerstörung Jerusalems und des Tempels und die Verschleppung der Führungsschichten in das Babylonische Exil.

Dieses Geschehen in der Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus dokumentiert das Scheitern des auserwählten Gottesvolkes, das sich darum bemüht hatte, so wie alle anderen Völker rings herum zu sein: ein Volk in einem Königreich. Nun, unter den neuen Bedingungen als Provinz des Perserreiches, entdeckt Israel sich neu: als ein Volk, dem Gott unterwegs in der Wüste das Gesetz des Lebens gegeben hat.

Man könnte auch sagen, dass man sich gemeinsam an die Grundlage der eigenen Existenz erinnerte und sich am Ende der erschütternden Katastrophe der tiefen Verwurzelung in Gott neu bewusst werden konnte: Wir sind ein Volk, dem Gott unterwegs in der Wüste das Gesetz des Lebens gegeben hat.

Der Lesungstext heute verdichtet die historische Erfahrung des Volkes Israel und führt uns in einen großen Freiluft-Gottesdienst. Das Wort Gottes wird vorgelesen. Dem versammelten Volk wird neu bewusst, wozu es (eigentlich!) berufen ist und wie sehr sie alle in der Vergangenheit die Chance ihres eigentlichen Lebens vertan haben. Die Leute weinen Tränen der Trauer und der Freude zugleich. Trauer über die bisherige Gottesvergessenheit. Freude über den Neuanfang, der da möglich ist.

Irgendwie passt diese Szene, wie ich meine, auch in die aktuelle Situation unserer Kirche. Es gibt zunehmend mehr Gründe für Tränen und Trauer, für Verzweiflung und Wut darüber, dass ausgerechnet Menschen der Kirche, die es besser hätten wissen und tun müssen, anderen, besonders Schutzbefohlenen, so unendlich großes Leid zugefügt haben.

Es ist dringend an der Zeit, dass wir uns – neben all der erforderlichen und hoffentlich ehrlichen und gründlichen Aufarbeitung des Geschehenen – auf den Kern dessen besinnen, was Kirche eigentlich ist, was es für uns heute heißt, zum Volk Gottes zu gehören, trotz allen Versagens und aller Schuld, die es mit Schamesröte zu beklagen gilt.

Die Geschichte Israels jedenfalls lehrt, dass es nach Zeiten dramatischer Zerstörung und Ausweglosigkeit, nach Zeiten großen Versagens und schwerer Schuld, die Menschen auf sich laden, dennoch einen Neuanfang geben kann. Nur Gott kann ihn gewähren und ermöglichen. Aus eigener menschlicher Kraft sind wir – auch als Kirche – dazu nicht in der Lage. Ein solcher Neuanfang, wird niemals losgelöst sein von dem, was unsere Geschichte ausmacht. Im Guten wie im Bösen.

Im Lesungstext heute treten Tränen der Wut über das viele Leid, aber auch Freudentränen, weil die Geschichte weitergeht und die Verbindung zu Gott nicht abreißt. Entscheidend ist, dass die Menschen, die die Schrift lesen und hören, sich als Teil der Überlieferung erfahren und sich davon berühren lassen. Und aus dieser Berührung heraus zum Handeln kommen.

Die Beachtung der Gebote Gottes ist das wesentliche Instrument, das Leben zu fördern und dem Bösen zu wehren. Das „Zehnwort vom Sinai“, die zehn Gebote, geben Orientierung und Maß. Wäre das in diesem Sinne nicht doch eine Perspektive für uns heute: „Macht euch keine Sorgen; denn die Freude am HERRN ist eure Stärke“?

Text – Pfarrer Elmar Kirchner
Foto – Beatrice To
masetti