Dokumentation der Predigt von Pfarrer Axel Hammes an diesem Sonntag

Am 22. Sonntag im Jahreskreis hat Pfarrer Dr. Axel Hammes über das Tagesevangelium gepredigt, bei dem es um das Streben nach Ehrenplätzen geht bzw. die Mahnung Jesu, bei der Einladung zu einer Hochzeit aus freien Stücken den untersten Platz einzunehmen. Nur so laufe man nicht Gefahr, beschämt zu werden, wenn man sich den besten Platz ausgesucht hat, von diesem aber verdrängt wird, weil er einem womöglich gar nicht zusteht. Nachfolgend ist die Predigt im Wortlaut dokumentiert:

Liebe Schwestern und Brüder!

Sie kennen sicher alle das Kinderspiel „Reise nach Jerusalem“: Alle laufen im Kreis um ein paar Stühle herum, und auf ein bestimmtes Signal hin versucht jeder, sich einen Platz zu erkämpfen, seinen Stuhl zu ergattern. Immer gibt es einen Stuhl zu wenig. Und mit jeder neuen Runde wird ein weiterer Stuhl weggenommen. Nur einer kann gewinnen. „Reise nach Jerusalem“: ein Spiel der schwindenden Möglichkeiten. Es wird immer enger, immer knapper. Die Spieler müssen schnell und entschlossen sein, damit sie nicht ausscheiden.

Im Grunde ist es genau das Bild, das Jesus im Evangelium benutzt, um der ehrenwerten Runde den Spiegel vorzuhalten. Wie es seiner Art entspricht, tut er das, indem er ihnen ein Gleichnis erzählt; ein Gleichnis ganz nach der Art von „Reise nach Jerusalem“. Denn in diesem Spiel spiegelt sich das reale Leben: Nicht selten gleicht unser Alltag einem einzigen Kampf um die besten Plätze, in unzähligen Warteschlangen und Beförderungsschleifen. Jeder versucht nach Kräften, seinen oft hart erarbeiteten Platz im Leben zu behaupten. Jeder sieht zu, dass nicht er am Ende ohne einen guten Platz dasteht und ins Abseits der guten Gesellschaft verdrängt ist. Manchem wird der Stuhl kalt entzogen. Andere klammern sich so fest an ihren Stuhl, dass sie sich dabei total verkrampfen und es einsam um sie wird. Als ginge es um Alles oder Nichts. Wieder andere stürzen von ihrem Stuhl tatsächlich ins Bodenlose. Es trifft solche, die sich nicht so gut wehren können, die sich nicht effektvoll zu verkaufen wissen. Die werden flott an den Rand gedrängt, brutal ausgespielt, einfach weggedrückt, als existierten sie nicht wirklich.

Nichts anderes muss Jesus ausgerechnet im Haus eines führenden Pharisäers mit ansehen. Wir erinnern uns: Pharisäer zur Zeit Jesu galten keineswegs als ewige Heuchler. Sie genossen hohes Ansehen, weil sie den Willen Gottes, die Thora, radikal ernst genommen haben, weil sie sich mit jedem Atemzug daran halten wollten. Daher entschließt sich Jesus im entscheidenden Moment, nicht mitzuspielen. Er gibt die vornehme Zurückhaltung auf und verstößt gegen die Etikette. Er fegt die guten Manieren einfach vom Tisch. Denn Jesus weiß ganz genau: Gutes Benehmen kann zur bloßen Fassade verkommen. Das Spiel, um das es wirklich geht, wird dann in höfliche und freundliche Floskeln verpackt. Dabei geschieht es so oft, dass wir uns gegenseitig genau taxieren und einteilen, wohin wir vermeintlich gehören: von uns aus nach „oben“ oder nach „unten“, zu den „Letzten“ oder den „Ersten“, bei den Siegertypen oder den ewigen Versagern. Gute Manieren zementieren die verborgene Hackordnung.

Jesus fasst den Mut und gibt den Spielverderber. Wir sind hingegen nicht selten bereit, kräftig bei dem Spiel mitzumachen. Wer wollte nicht den Platz, den er eingenommen hat, weiter verbessern, Zug um Zug aufrücken, dabei den einen oder anderen Konkurrenten hinter sich lassen, den Aufstieg schaffen auch auf deren Kosten. Mit feiner Ironie greift Jesu Gleichnis dies Allzumenschliche auf. Halten wir einen kurzen Moment inne, ob Jesus da nicht auch einen unserer blinden Flecken trifft. Vielleicht führt sein Gleichnis auch uns an eine der dunklen Quellen für Stress, Ärger und Verbitterung, die wir uns täglich antun.

Aber damit will Jesus sich noch nicht zufriedengeben. Für „Gastgeber“ aller Art hält sein Gleichnis eine weitere Lehre bereit. Wir lieben es doch zu sehr, nach Möglichkeit unter uns zu bleiben. Dann bilden sich leicht ziemlich „geschlossene Gesellschaften“. Auch als christliche Gemeinde tun wir uns zuweilen schwer damit, gesellschaftliche Außenseiter in unserer Mitte willkommen zu heißen. Nicht nur unsere „Lieblingsarmen“, die unserem Image gut tun, sondern auch die Quertreiber und Querdenker mit ihren unbequemen Fragen und ihren eigenwilligen Umgangsformen. Viel zu groß sind unsere Berührungsängste. Der Wunsch, möglichst unter seinesgleichen zu bleiben, ist eine feste Größe nicht nur bei den sogenannten oberen Zehntausend. Allzu menschlich meiden wir es, uns potentiellen Unfrieden ins eigene Haus zu holen. Allzu offenes Verhalten bringt schnell ins Gerede, stellt einen selbst am Ende ins Abseits. Niemand mag sich dafür rechtfertigen müssen, mit wem er sich abgibt. Niemand mag so leicht Geringschätzung und Unverständnis dafür riskieren, dass er sich auch mit zweifelhaften Leuten sehen lässt. Das Spiel könnte sich auf einmal ganz gegen uns wenden.

Natürlich kann es uns nicht völlig egal sein, was andere Menschen von uns denken. Es liegt uns schließlich etwas an ihnen. Die Sorge um das eigene Ansehen ist menschlich und legitim. Aber vielleicht spielt sie eine übergroße Rolle für unser Verhalten. Vielleicht lähmt und blockiert sie uns nur. Jesus legt den Finger mit solchem Nachdruck in die Wunde, weil er die tiefer sitzende Angst dahinter erkennt. Diese menschliche Urangst, im Leben zu kurz zu kommen; nichts wert zu sein, nichts zu gelten, als ein Niemand zu enden. Wert und Geltung kann ich mir niemals selbst zusprechen. Dieser Zuspruch muss von einem Anderen kommen. Manche wollen dem entkommen, haben so viel aus sich gemacht. Doch isolieren sie sich und stehen dann ziemlich einsam und verlassen ganz oben an der Spitze. Jeder von uns kann es nur empfangen, jeder muss es sich schenken lassen. Von welchen Platzanweisern ist mein Selbstwertgefühl tatsächlich abhängig? Wir Christen sollen und dürfen aus einer großartigen Erfahrung leben: Unermesslicher Wert und unbedingte Geltung sind uns schon längst geschenkt worden. Vom IHM, unserem Herrn. Er setzte sich ganz bewusst mit Zöllnern und Sündern an einen Tisch – nicht aus Lust an der Provokation, sondern damit sie ihren Platz finden. Er wusch seinen kleingläubigen Jüngern die Füße – nicht von oben herab den Kopf, damit es in seiner Kirche immer großherzig und großzügig zugeht. Er nahm schließlich den verächtlichen, würdelosen Kreuzestod auf sich – für uns. In der Gesellschaft Jesu bin ich unschätzbar viel wert, bei ihm gelte ich etwas und werde gewiss nie zu kurz kommen. Jetzt feiern wir sein Gedächtnis, um unser Vertrauen darauf zu festigen. Christi Leib und Blut werden hochgehoben und uns gezeigt, damit wir genau hinschauen auf den unansehnlichen Platz, den er um unsretwillen eingenommen hat: auf sein Kreuz. Alles, was wir als Christen tun, steht und fällt mit diesem Geheimnis. Wenn gerade darin das Leben zu finden ist, haben Streitigkeiten um Ränge und Plätze bei uns nichts verloren. – Und wo es dennoch dazu kommt, haben wir unseren Posten längst verlassen, Laien wie Kleriker. – Wenn wir aber diesem göttlichen „Spielverderber“ Glauben schenken, dann haben wir an jedem nur denkbaren Platz beste Chancen, menschliches Berechnen und Aufrechnen zu überwinden. Dann haben wir alle die Chance und den Auftrag, Platz zu schaffen für die reich gedeckte Tafelrunde Gottes. Amen.

Foto – Beatrice Tomasetti