„Sagenhaft – wie bei dir die Vögel zwitschern“, sagte mein Gesprächspartner neulich am Telefon. Seltsam, das war mir gar nicht aufgefallen. Nach dem Telefonat nahm ich mir die Zeit, bewusst zu lauschen. Tatsächlich: Vielstimmiger Vogelgesang – Trillern und Tschirpen, Flöten und Gurren in den unterschiedlichsten Tonfarben und Lautstärken – drang durch das geöffnete Fenster herein. Wie konnte ich das nur die ganze Zeit überhört haben?
„Gott schenke uns Ohrenlider. Wir sind unzweckmäßig eingerichtet“, schrieb Kurt Tucholsky 1931. Im Unterschied zu den Augen, die wir schließen können, wenn es uns beliebt, müssen wir die Ohren Tag und Nacht offen halten. Im Alltag wird uns das häufig zu viel. Wenn Stimmen durcheinander reden, wenn der Verkehrslärm dröhnt, wenn Handy-Klingeltöne allgegenwärtig sind, wünscht man sich oft die Fähigkeit zum Weg-Hören. Das Donnern startender Flugzeuge – jetzt zu Beginn der Ferien wieder besonders häufig zu vernehmen – nervt; das Wummern der Bässe, wenn bei Nachbarn eine Gartenparty gefeiert wird, lässt uns nicht zur Ruhe kommen. Manche Zeitgenossen benutzen Ohrstöpsel, um überhaupt noch ungestört schlafen zu können. Absolute Stille wünschen wir uns und bilden uns gern ein, darin läge die völlige Entspannung für Körper und Seele.
„Eine himmlische Ruhe ist das hier“, sagen wir, wenn wir uns an einem schönen Ort befinden. Was aber macht die Ruhe „himmlisch“? Ist es absolute Geräuschlosigkeit – oder nicht vielmehr eine Geräuschkulisse, die von uns als wohltuend empfunden wird: Bienengesumm und Vogelgezwitscher, das Plätschern eines Bachs oder gar eine Kirchturmuhr, die zu jeder vollen Stunde schlägt. Entscheidend ist: Wir sind im Einklang mit uns selbst und der Umwelt, fühlen uns lauschend lebendig.
Wer all das nicht mehr wahrnimmt, ist vom Leben wie abgeschnitten. „Endlich höre ich die leisen Töne wieder“, sagte meine Mutter kürzlich. Ihre sich rapide verschlechternde Schwerhörigkeit hatte die Anpassung eines neuen Hörgeräts erforderlich gemacht. Unbemerkt waren diese leisen Töne aus ihrem Leben verschwunden. Jetzt stellte sie erstaunt fest, was ihr seit einiger Zeit gefehlt hatte: etwa das Rascheln der Seiten beim Zeitunglesen, das Blubbern der Kaffeemaschine, das Geräusch sich nähernder Schritte.
Hören zu müssen – auf alles, was unser hektischer Alltag uns zumutet – kann eine Last sein. Aber Hören zu können: ein Geschenk. Deshalb habe ich mir vorgenommen, ab jetzt häufiger nicht weg- sondern hinzuhören und aufmerksamer zu sein für die vielen Zwischentöne des Lebens: Auch wenn es hartnäckig brummkreiselnde Stubenfliegen sind oder das monotone Prasseln des Regens…
Beitrag – Martina Martschin
Foto – flickr, Gianna, Wassertropfen_99_6