Kreuzweg – Station 6

Veronika reicht Jesus das Schweißtuch.

Station-6
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„Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
(Mt 25, 40)

Unter den trauernden Frauen am Rande des Kreuzwegs Jesu ist eine, die aus der Passivität heraustritt und ihm einen Liebesdienst erweist: sie reicht ihm ein Schweisstuch, in dem dann das verschwitzte und blutende Antlitz Jesu als Abdruck zurückbleibt – so berichtet die Legende. Neben dieser Frau namens Veronika, deren Gesicht zur Hälfte von dem Tuch mit dem Gesichtsabdruck des leidenden Jesus bedeckt wird, zeigt unsere Station noch ein Paar Hände mit schwarzer Hautfarbe, die von unten her einen leeren irdenen Napf ins Bild heben; eine dieser Hände ist verwundet und von einem blutgetränkten Verband umwickelt.

Zur Deutung dieses Bildes müssen wir auf die „Legenda aurea“, die berühmteste Legendensammlung des Mittelalters zurückgreifen. Hier ist davon die Rede, dass jene von Jesus geheilte blutflüssige Frau aus dem Matthäus-Evangelium ein Abbild Jesu bei sich haben wollte. Da niemand in der Lage war, ein solches anzufertigen, schenkte ihr Jesus selbst einen Abdruck seines Antlitzes in einem Schweisstuch. (Erst in jüngeren Fassungen der Veronika-Legende wurde dieses Schweißtuch dann mit der Passionsgeschichte verknüpft). Der römische Kaiser Tiberius, so die Legende weiter, erkrankte an Aussatz und hörte, in Palästina gebe es einen Arzt, der fähig sei, den Aussatz zu heilen. Sein Vertrauter Volusianus, den Tiberius.

heimlich nach Israel geschickt hatte, um diesen Arzt ausfindig zu machen, erfuhr, dass dieser Arzt vor wenigen Jahren unter Pontius Pilatus hingerichtet worden sei, dass aber eine Frau in Besitz eines Tuches sei, das die gleiche Wirkkraft besitze, wie der Arzt selbst, da es die „pictura vera iconica“ (das wahre, lebensechte Antlitz) dieses Arztes (Jesus) enthalte. Volusianus nahm die „blutflüssige Veronika“ und ihr Tuch mit nach Rom, wo der Kaiser Tiberius tatsächlich geheilt wurde und als anonymer Christ starb. Soweit diese Legende, in welcher der Name „Veronika“ einerseits als Name der Frau, andererseits aber auch als Name des wundertätigen Tuches erscheint, das die „vera icona“ – das wahre Antlitz Christi – darbietet.

Vor dem Hintergrund dieser Legende gibt uns der Künstler seine Antwort auf die Frage, wo wir denn heute das Gesicht des leidenden Heilands am besten, am authentischsten erkennen können: er konfrontiert uns mit den Armen, den Hungernden und Notleidenden der so genannten „3. Welt“, die durch das Händepaar mit dem Essensnapf symbolisiert werden und die stellvertretend stehen für alle, die hungern nach dem Lebensnotwendigen, deren Leben verwundet ist und deren hilfesuchend hochgereckte Hände an unser Erbarmen, an unsere Solidarität und Hilfsbereitschaft appellieren.

So gesehen werden aus den zunächst drei Gestalten dieses Bildes – Veronika, der leidende Christus, das Händepaar eines anonymen Notleidenden – nur noch zwei: Christus selbst schaut uns an und hält uns mit den Händen der Ärmsten seinen leeren Napf hin, damit wir aus unserer Passivität heraustreten und tun, was zu tun ist, damit wir ein Zeichen des Mitleidens setzen und nach Kräften fremde Not wenden.

Veronika tat, was sie tun konnte, um dem leidenden Jesus einen Liebesdienst zu erweisen – so deutet es auch die rote Farbe ihres Gewandes, die Farbe der Liebe, die sie Christus ähnlich macht (vgl. die Farbe des Gewandes Christi). Was tust DU, so fragt uns diese Station, wenn du in den Notleidenden dem Schmerzensmann begegnest? Denn daran wird einmal alles hängen: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“.

 

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