Jesus begegnet seiner Mutter
Ein zum Tode verurteilter Mensch begegnet auf seinem Kreuzweg dem Menschen, der ihm am nächsten steht, seiner Mutter. Eine erschütternde Begegnung, die diesen beiden einen schmerzlichen Abschied zumutet. Dieser Moment ist so intim, so ungeschützt, dass er keine neugierigen Blicke verträgt, so empfindet es der Künstler, der die Gesichter der beiden hinter dem ragenden Kreuzesbalken dem Betrachter entzieht. Wir wissen nicht, ob sie etwas zueinander sagen und was das für Worte sind, die sie vielleicht in diesem Augenblick wechseln. Wir wissen auch nicht, was ihre Mienen ausdrücken oder ob Jesus sein gemartertes Haupt etwa für einen Augenblick auf der Schulter seiner Mutter ruhen lässt. Wir wissen nur, dass sich hier zwei Menschen ganz nahe sind, deren Schicksale aufs innigste miteinander verwoben sind.
Und wir sehen ihre Hände, die zu uns sprechen. Jesus hält das Kreuz mit beiden Händen umfasst, er lässt es auch in diesem Moment nicht los. Dieses Kreuz ist jetzt sein unausweichliches Schicksal, das es durchzutragen und zu bestehen gilt. Diesem Jesus nahe zu sein in diesem Augenblick, heisst, ihn mit diesem Kreuz anzunehmen und ihn spüren zu lassen: ich stehe zu dir, ich verlasse dich nicht. Mit einer liebevoll, zärtlichen Berührung ihrer linken Hand lässt Maria ihren Sohn diese Annahme spüren. Und so verkörpert sie in diesem Moment beides:
ihr vom grünen Mantel und dem Trauerflor verhülltes Haupt lassen die Qual der Mutter erahnen, die den Sohn, dem sie das Leben schenkte, nun loslassen muss, ihn gehen lassen muss auf seinem Weg in den Tod, auf dem sie ihm jetzt nicht folgen kann; ihre behutsame, zärtliche Hand lassen uns ihre Liebe erahnen, die stark und mutig genug ist, vor dieser Begegnung nicht zurückzuschrecken sondern sich ihrem todgeweihten Kind tröstend zuzuwenden.
Ja, Trost ist es, der von diesem Bild ausstrahlt, nicht verzweifelte Klage oder abgrundtiefe Trauer. In diesem Zusammentreffen von Jesus und seiner Mutter geschieht wirkliche Begegnung; da sind keine Masken, keine inneren Mauern, die trennen, sondern es ist, als würden sich zwei Herzen berühren, und darin liegt, wie schmerzlich die Situation auch sein mag, eine wirkliche Tröstung. Auch ist da keine Rollenteilung von Tröstendem und Getröstetem erkennbar, beide sind Gebende und Empfangende, wie es die tröstende Hand Mariens einerseits und der helle Schein, der vom verborgenen Haupt Jesu ausstrahlt, andererseits andeuten.
Eine ähnliche Erfahrung bezeugen viele, die das Sterben ihrer Lieben in einer Weise begleitet haben, die wirkliche Nähe und Begegnung einschloss. Wo man sich gegenseitig nichts mehr vormacht über die Realität des nahen Todes, wo Protest, Trauer und Ohnmacht ebenso zugelassen und angenommen werden wie Dankbarkeit, Hoffnung und Liebe, da bekommt der Weg in den Tod eine menschenwürdige Gestalt, da berühren sich wirklich die Herzen der Menschen und erfahren wechselseitig Tröstung und Ermutigung.
Wie oft aber betrügen wir uns gegenseitig um diese tiefe menschliche Erfahrung, weil wir unter dem Vorwand, die Todgeweihten schonen und nicht beunruhigen zu wollen, eine Mauer des Schweigens aufbauen, eine Wand der Vertröstung und der falschen Hoffnung. Diese Kreuzwegstation jedenfalls lädt uns ein, um der Menschlichkeit und der Liebe willen – und um der eigenen Tröstung willen – die Begegnung im Angesicht des Todes zu wagen.
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