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Zweiter Weihnachtstag – Fest des Heiligen Stephanus

Traditionell gedenkt die Kirche am zweiten Weihnachtstag dem Heiligen Stephanus, der etwa um 40 n. Chr. gestorben ist und als erster Märtyrer des Christentums gilt, so dass er daher oft auch als Erzmärtyrer bezeichnet wird. Seine Reliquien befinden sich in der Krypta der römischen Kirche San Lorenzo fuori le mura. Stephanus wird in der katholischen Kirche, den orthodoxen Kirchen, der anglikanischen, der altkatholischen und der lutherischen Kirche als Heiliger verehrt. In der Messe in St. Nikolaus predigte über diesen frühchristlichen Märtyrer Diakon Clemens Neuhoff. Seine Predigt ist nachfolgend im Wortlaut dokumentiert:

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

Tod und Leben, Leid und Freude sind manchmal näher beieinander, als man vermuten könnte. Dies trifft sicherlich auch besonders an diesem Weihnachtsfest zu. Während die einen gemeinsam im kleinen Kreis der Familie feiern konnten bzw. es sich trauten, blieben andere unfreiwillig allein – aus Furcht vor einer Ansteckung. Während die einen froh darum waren, bisher verschont geblieben zu sein, mussten andere erstmals Weihnachten allein feiern, weil der Ehemann, die Ehefrau oder die Großmutter, der Großvater oder sonst ein Angehöriger kürzlich verstorben ist. Freud und Leid liegen in diesen Tagen – oftmals unsichtbar – ganz nah beieinander.

Als hätte die Kirche geahnt, dass es mal ein Weihnachten wie dieses geben wird, an dem alles wie unter einem Brennglas erscheint, wurde der Gedenktag des Heiligen Stephanus schon vor vielen Jahrhunderten und aus mittlerweile nicht mehr bekannten Gründen auf den 26. Dezember gelegt, den zweiten Weihnachtstag. Gestern noch die Freude über die Geburt Jesu – „Süßer die Glocken nie klingen“, Gott wird Mensch, „holder Knabe in lockigem Haar“, Engel singen, der Immanuel ist da. Heute eine brutale Steinigung. Ein unschuldiger Mensch wird ermordet: ein Märtyrer, der erste bezeugte Märtyrer der Kirche, der erste Mensch von dem bezeugt ist, dass er für Christus sein Leben hingegeben hat.

Damit setzt sich ein zentraler Aspekt der Weihnachtsgeschichte fort: Die Ohnmacht, die Gott gegenüber uns Menschen annimmt. Der allmächtige Gott, an den wir glauben, der Schöpfer, der Urheber des Universums, der „Adonai“, der das Volk Israel aus der Sklaverei geführt hat, der es 40 Jahre in der Wüste umsorgte, um es schließlich in ein wunderbares Land zu führen, der Könige und Propheten eingesetzt hat. Dieser Gott beschließt, Mensch zu werden, beginnend in einer jungen Frau, einer Jungfrau, und er kommt zur Welt als kleines Baby: 50 Zentimeter, ein paar Pfund. Ein Säugling ist das Symbol der Ohnmacht, er kann nichts außer schlafen, essen und schreien, ist vollständig auf seine Eltern angewiesen, auf die Sorge und die Liebe. Auf diese Weise macht sich Gott so verletzlich und doch so unendlich nahbar, dass wir einen Zugang zu ihm haben und begreifen können: Vor diesem Gott brauche ich keine Angst zu haben, dieser Gott liebt mich.

Auch in Stephanus hat sich die Ohnmacht Gottes fortgesetzt. Stephanus war einer der sieben Diakone in der Gemeinde in Jerusalem. Diese widmeten sich dem Dienst an den Tischen, das heißt, der Caritas vor Ort, um den Aposteln die Möglichkeit zu geben, sich ganz der Verkündigung der frohen Botschaft und den Missionsreisen zu widmen. Obwohl Stephanus zunächst „nur“ einer der Diakone war, so erwies er sich doch auch als eifriger Prediger und suchte oft die Konfrontation mit den gelehrten Juden seiner Zeit. Man muss wissen, dass es damals noch keine Trennung gab zwischen Juden und Christen, alle Christen waren auch Juden, gehörten aber einer neuen Strömung, einem „neuen Weg“ an, den Stephanus eben predigte. Er wirft den Gelehrten seiner Zeit Halsstarrigkeit vor, da sie Jesus nicht erkannt haben, mehr noch, da sie auch die Propheten, die Gott ein ums andere Mal sandte, ignorierten oder gar töteten. Und dann spricht Stephanus einen Satz, der das Fass zum Überlaufen bringen sollte: „Ich sehe den Himmel offen und den Menschensohn zur Rechten Gottes stehen.“ Er legt Zeugnis ab von Christus, dem Messias. Und dies kostet ihn das Leben. Der Christus, den er gerade bezeugt hat, scheint dann ohnmächtig, also machtlos, zuzusehen, wie sein Zeuge, sein Märtyrer getötet wird. Die Umstehenden bedienen sich der gottgeschenkten Freiheit und missbrauchen diese, um zu töten. Niemand schreitet ein, keine wunderbare Rettung in letzter Sekunde, kein Happy End. Jesus, Gott, scheint in diesem Moment genau so viel ausrichten zu können, wie der Jesus, der als Säugling in der Krippe liegt. Doch das stimmt nicht!

„Das Wesen Gottes ist die Liebe. Würde Gott nicht lieben, so wäre er nicht mehr.“ Das hat unser Erzbischof in seiner Weihnachtspredigt gesagt. Folglich ist Gott gerade dort, wo geliebt wird. Und das Martyrium des Stephanus bezeugt genau dies: die Liebe zum Feind im Angesicht des Todes. Die Liebe zu den Menschen, die gerade dabei sind, dich bestialisch einem langsamen und qualvollen Tod sterben zu lassen. Genau in dieser Situation ist Gott, die Liebe, ganz anwesend. Wie sonst lässt sich erklären, dass Stephanus ausruft: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an!“ Im Moment des Todes betet er für seine Mörder. Kein Mensch kann von sich aus so handeln. Keiner! Nur derjenige, der ganz und gar von Gott durchdrungen, von seiner Liebe getragen ist.

In Bethlehem im Stall, auf Golgotha am Kreuz, in Jerusalem beim Martyrium des Stephanus. Drei Mal der gleiche Christus. Drei Mal sehen wir die vermeintliche Ohnmacht und Machtlosigkeit Gottes. Drei Mal jedoch offenbart Gott auf einzigartige Weise sein Wesen: Liebe.

Liebe Schwestern und Brüder, wir glauben an einen Gott, der seine Kraft in der Schwachheit des Menschen erweist. Ein Gott, der sich klein Macht, der sich töten lässt. Ein Gott, der den Tod besiegt hat. Deswegen brauchen wir keine Angst zu haben. Wir brauchen keine Angst zu haben vor dem Tod, keine Angst vor Corona, keine Angst vor dem eigenen Versagen, vor dem Versagen anderer, keine Angst vor der Zukunft, keine Angst um die Zukunft unsere Kinder. Gott ist kein Schönwettergott, er erweist seine Kraft, wenn wir uns ohnmächtig fühlen, wenn wir keinen Ausweg sehen. Er erweist seine Kraft, indem er uns die Liebe ins Herz schenkt.

Mit dem Martyrium des Stephanus kündigt sich schon der nächste Erweis der Kraft der Liebe Gottes an. Es wird quasi „gespoilert“, es tritt bereits eine Person auf, die im weiteren Verlauf des jungen Christentums noch eine entscheidende Rolle spielen wird: Saulus alias Paulus. Er ist dabei, als Stephanus ermordet wird. Er verfolgt die Christen und kerkert sie ein. Und genau diesen Menschen erwählt Gott, um ihn zu einem großen Werkzeug, zu einem eifrigen Missionar und Prediger für die frohe Botschaft zu machen.

Dies zeigt uns aufs Neue: Wo Gott scheinbar ohnmächtig ist, ist seine Liebe übermächtig. Die Liebe, die arme Hirten mit Freude erfüllt, die Liebe zu Armen und Kranken, die Jesus heilt, die Liebe zum Feind, die Liebe zu jedem Einzelnen von uns, gerade dann, wenn auch wir zu Gottes Feinden werden, uns ihm widersetzen. Seine Liebe hört niemals auf.

Text – Clemens Neuhoff
Foto – Beatrice Tomasetti

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