Der Sommer geht – aber noch ist nicht Weihnachten
Am Wochenende haben wir unsere Uhren wieder um eine Stunde zurückgestellt. Ende der Sommerzeit. Auch dem Namen nach hat sich der Sommer für dieses Jahr endgültig verabschiedet. Ohnehin leben wir seit Wochen schon im Herbst-Modus: Das Laub weht von den Bäumen, die Abende werden länger und kühler, ohne mollige Jacke kann man nicht vor die Tür gehen.
Herr: Es ist Zeit, der Sommer war sehr groß… War er das wirklich? Eher scheint es, als wäre er kaum da gewesen und ist schon wieder entschwunden. Man muss nicht zur Früher-war-alles-besser-Fraktion gehören, um sich zu fragen: Dauerten die Sommer der Kindheit nicht länger? Damals schienen die Wochen sich endlos auszudehnen und ihre eigenen Vergnügungen zu haben: Freibadbesuch und Fahrradtour, auch faules Dahindösen an heißen Tagen. Im Sommer radelte ich täglich querfeldein zur Schule. Dabei konnte ich sehen, wie lange es braucht, bis die Halme wachsen und das Korn reift. Der Sommer wurde in Echtzeit erlebt, nicht im Zeitraffer.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren… Heute sind unsere Uhren keine bloßen Zeitmesser mehr, sondern Taktgeber. Sie bestimmen den Rhythmus des Alltags. Neuerdings mahnen sie auch das an, was noch unerledigt ist. Wir leben unter dem Diktat, dass Zeit niemals vergeudet werden oder einfach verstreichen darf, sie muss organisiert und möglichst effizient genutzt werden. Nicht ohne Grund ist Zeitmanagement ein zentrales Thema in der Berufswelt. Auch das trägt dazu bei, dass wir unser Zeitgefühl mehr und mehr einbüßen und dem Rhythmus der Natur und der Jahreszeiten nicht mehr folgen. Wer schon nach den Sommerferien Weihnachtsgebäck und Christbaumschmuck kaufen kann, wird aus der Zeit getragen wie aus einer zu schnell genommenen Kurve.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr… Wie erschreckend aktuell diese Zeile doch klingt im Angesicht von tausenden Flüchtlingen, die jetzt ohne festes Quartier für den Winter sind! Sie wurden aus ihrer Zeit und ihrem Leben gerissen, müssen bei uns zwischen Hoffen und Bangen ausharren. Da ist es wirklich höchste Zeit, um ihnen mit vereinten Kräften zu helfen und ihnen Obdach zu geben.
Die Gedichtzeile sagt uns aber auch ganz unverblümt: Alles hat seine Zeit. Was wir bis jetzt aufgeschoben und versäumt haben, dazu ist jetzt keine Gelegenheit mehr. Vielleicht vertagen wir es besser, als uns hektisch mit länger werdenden To-do-Listen abzuplagen. Der Herbst ist eine Zeit des Sich-Sammelns und des Zur-Ruhe-Kommens. Statt jetzt schon die Tage bis Weihnachten zu zählen: den Herbst genießen, rausgehen, Luft holen, Kraft schöpfen, noch einmal in die Sonne blinzeln.
Text – Martina Martschin
Foto – Theres Schönberg