Vor 30 Jahren war Monsignore Johannes Börsch zwei Jahre lang Generalvikar des Apostolischen Administrators von Kasachstan und Zentralasien in Karaganda. In den letzten Tagen ist Kasachstan, ein Land unvorstellbarer Flächenausmaße mit einem autoritären Regime, in den Fokus gerückt. Katholiken sind dort in der Minderheit, aber von einer großen Glaubenstiefe geprägt, wie sich Pfarrer Börsch in einem Interview erinnert.
Monsignore Börsch, die politischen Ausschreitungen in Kasachstan haben in den letzten Tagen viele Menschenleben gekostet, tausende wurden verletzt und verhaftet. Der katholische Bischof von Karaganda, Adelio Dell’Oro, hat dem Papst für seine Gebete gedankt.Diese seien wichtig „in einer so schwierigen Zeit für das kasachische Volk“, betonte er, zumal öffentliche Gottesdienste aufgrund des Ausnahmezustands zurzeit untersagt sind. 1992, kurz nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit dieses zentralasiatischen Landes, sind Sie für zwei Jahre nach Karaganda gegangen und haben dort bei dem Aufbau einer kirchlichen Infrastruktur geholfen. Mit welchen Gefühlen verfolgen Sie die aktuellen Nachrichten?
Msgr. Johannes Börsch (ehemaliger Generalvikar des Apostolischen Administrators in Kasachstan und heute Subsidiar in Bensberg/Moitzfeld): Mit großer Betroffenheit und Sorge, weil ich sofort dieses wunderbare, vielseitige, aber auch riesige Land zwischen Steppenlandschaft auf der einen und Hochgebirge auf der andere Seite vor Augen habe, aber eben auch beobachte, dass den Menschen dort gerade die Freiheit und ihre Möglichkeiten zur Entfaltung genommen werden, sie erneut wie auch schon zur Zeit des Kommunismus Unterdrückung erfahren. Die Bevölkerung besteht aus sehr unterschiedlichen zugewanderten europäischen Ethnien: vor allem aus Russen, Polen, Tschechen, aber auch Deutschen. Die Einheimischen selbst sind in der Minderheit. Als ich vor 30 Jahren nach Kasachstan ging, gehörten zu unserer Apostolischen Administration außerdem noch Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan, also in der Summe ein Gebiet unvorstellbaren Ausmaßes mit großteils kargen Landschaften und vielen verstreuten Dörfern.
Bis heute habe ich Kontakt zu den Menschen dort und fühle mich ihnen immer noch sehr verbunden. Ich denke da zum Beispiel an einen Priester, der aus Tadschikistan stammt und mitten im Ural, im heutigen Jekatarinburg, seinen Dienst tut und sich ab und zu in unseren Bensberger Gemeindegottesdienst auf Youtube einschaltet, um eine Verbindung zu mir herzustellen, was heute ja technisch alles mühelos geht. Oder an seine Schwester, die später als Ordensfrau nach Bethlehem gegangen ist. Sie gehören zu den vielen Menschen, die sich in diesem Teil der Welt über Jahrzehnte einen tiefen Glauben bewahrt haben und diesen auch aus tiefster Überzeugung im Alltag leben. Ja, ich verfolge die Nachrichten mit großer Aufmerksamkeit, gerade weil ich ein Herz für die Menschen dort habe und ich es immer bewundert habe, wie sie sich den äußerlich unwirtlichen Verhältnissen – dem sehr speziellen Klima und der großen Armut – entgegengestellt und aus ihrem Glauben heraus die religiösen und politischen Herausforderungen gemeistert haben.
In dem weitgehend muslimisch geprägten Kasachstan gibt es heute laut Vatikanangaben fünf katholische Diözesen mit 230 Seelsorgeeinheiten und insgesamt nur 123.000 Gläubigen – und das in einem Staat, der als neuntgrößter der Welt gilt. Nur damit man sich diese enormen Größenverhältnisse einmal vor Augen führt: Die ehemalige Sowjetrepublik am Kaspischen Meer grenzt im Norden an Russland, im Südosten an China und Kirgistan sowie im Südwesten an Usbekistan und Turkmenistan. Von den rund 18,8 Millionen Einwohnern sind zwar gut ein Viertel Christen, doch fast alle gehören der russisch-orthodoxen, nur wenige der katholischen Kirche an. Wie kann da eine Pastoral aussehen, und wie haben Sie Kontakt zu den Menschen bekommen?
Börsch: Vorrangiges pastorales Ziel war damals wie heute, den Glauben weiterzutragen. Es gab zum Beispiel Ordensfrauen, die sich bei der Katechese engagierten. Da wurden die Kinder nicht – wie bei uns heute – an der Kirchentür abgegeben und die Arbeit der Glaubensunterweisung an Hauptamtliche delegiert. Alles war Eigeninitiative. Die religiöse Erziehung der Kinder lag großteils bei den Eltern. Jeder war mitverantwortlich. Außerdem organisierten die Schwestern die bis dato geheimen Treffen zum Rosenkranzgebet auch nach der Öffnung des politischen Systems weiter. Diese ganz selbstverständlichen regelmäßigen Treffen waren für die Katholiken dort so etwas wie für uns die täglichen Messen: nämlich Kraftquelle. Es gab eben – wie gesagt – nicht alle zwei Kilometer einen Pfarrer. Hier wurde besonders augenfällig: Die Kirche lebt nicht von den Priestern, sondern vom einfachen Gottesvolk. Für jede Familie, die ich getroffen habe, stand der Glaube an erster Stelle. Das machte die Stärke dieser Menschen aus.
Worin bestand damals als Generalvikar Ihre Aufgabe?
Börsch: Aus all dem, was ein Generalvikar auch in Deutschland sonst macht. Natürlich war manches erst im Entstehen, als ich meine Arbeit aufnahm: Es wurden Kirchen, Kapellen und kleine Gemeindezentren gebaut. Aber auch für die geistliche Begleitung des Priesternachwuchses und der vielen Ordensberufungen, vor allem bei den Frauen, war ich zuständig. Mit einem Mal brach viel auf, was es zuvor nur im Untergrund gegeben hatte. Als „Alter ego“ des Administrators habe ich außerdem dafür gesorgt, dass andere deutsche Diözesen Seelsorger für einen vorübergehenden Einsatz in Kasachstan freistellten. Da musste man mitunter dicke Bretter bohren, weil es ja auch schon damals in Deutschland einen Priestermangel gab. Denn natürlich waren wir für diese riesigen Gebiete und Entfernungen in der Apostolischen Administration viel zu wenige.
Ich habe Kontakt zu deutschstämmigen Familien aufgenommen, zu denen noch nie zuvor jemals ein Priester gekommen war und mit denen ich in deren Haus zum ersten Mal überhaupt eine heilige Messe zelebriert habe, weil es Kirchen in diesen abgelegenen Gegenden schlichtweg nicht gab und daher auch keine Eucharistiefeier oder Beichte. Das waren immer ganz besonders eindrucksvolle, bereichernde Erfahrungen. Da fährt man schon mal schnell ein paar hundert Kilometer oder muss sogar ein Flugzeug ans Kaspische Meer nehmen, um mit solchen Menschen die Begegnung im Glauben zu teilen, die aber dann auch für einen selbst von großer Nachhaltigkeit ist. Und auch die andere Seite hat einen Seelsorger der eigenen Muttersprache stets als Geschenk betrachtet. Um was es nie ging, war Missionierung. Denn Glaubensfestigkeit und eine Lebensgestaltung aus einem unerschütterlichen tradierten Glauben heraus gab es ja.
Und nicht zuletzt habe ich es am Ende sogar geschafft, eine in Bonn-Beuel ausgelagerte Orgel nach Tomsk, einer Stadt in Westsibirien zu vermitteln, wo man Freudentänze aufgeführt hat, als dieses Instrument dort ankam. Meine guten Kontakte haben überhaupt so manchen Schachzug diesbezüglich möglich gemacht, wenn ich nur daran denke, wie ich nach einem meiner Heimatbesuche einmal einen Tabernakel für eine Kirche in Karaganda über die russische Grenze geschmuggelt habe…
Ihr Auftrag in Kasachstan hatte sicher grundsätzlich auch diese abenteuerliche Seite. Das kann man sich unschwer vorstellen, wenn man auch heute wieder nach Osteuropa blickt und wahrnimmt, wie schnell man ins Fadenkreuz von Ermittlungen geraten kann. Was hat Sie bei Ihrer Arbeit denn besonders gereizt? Schließlich muss man sich bei einer solchen Mammutaufgabe verwaltungstechnisch, kirchenrechtlich und auch wirtschaftlich auskennen…
Börsch: Diese bedrängte, im Kommunismus unterdrückte Kirche hat mich immer schon interessiert. Das fing schon während meines Freisemesters in München an, in dem ich mehrfach nach Prag gereist bin, um dort in den 1970er Jahren zur Zeit des Eisernen Vorhangs meine angehenden Mitbrüder in ihrer nicht einfachen Situation zu ermutigen und zu stärken. Wenn ein Glied leidet, leiden alle anderen mit. Das ist bis heute mein Standpunkt. Als Gemeinschaft von Priestern sind wir eine einzige große Familie, in der der eine für den anderen da ist. Wenn ich heute zu entscheiden hätte, würde ich vielleicht in den Sudan gehen.
Nochmals sehr grundsätzlich:Welche Rolle spielt Religion in diesem sehr östlichen Teil der Erde? Und konkret: Was bedeutet den Menschen ihr Glaube in Kasachstan?
Börsch: Messen in Privathäusern nach dem Beispiel der Urkirche waren damals mangels kirchlicher Versammlungsräume ganz normal. Daraus schöpften die Menschen Hoffnung. Überhaupt war es eine Selbstverständlichkeit, dass sich die Christen in Kasachstan völlig selbständig organisierten und nicht darauf warteten, dass da ein Priester vorbeikommt. Dieses Angewiesensein gab es nicht. Stattdessen spielte das Rosenkranzgebet eine zentrale Rolle. Der Rosenkranz war für die meisten das Verbindende; über dieses Gebet hatten sich die Katholiken in einer weitgehend atheistisch geprägten Gesellschaft über eine lange Zeit ihre Identität bewahrt. Man muss wissen: Diese Menschen hatten damals Anfang, Mitte der 90er Jahre nichts außer ihrem Glauben. Für sie war der Glaube alles. Diesen Glauben mit einfachsten Mitteln zu leben, die Gemeinschaft mit Gott war ihnen neben der Familie das Wichtigste.
Ein großer Segen für unsere Arbeit war natürlich die Unterstützung durch Renovabis. Ohne es zu wissen, haben auch die deutschen Katholiken durch ihre Spenden einen erheblichen finanziellen Beitrag dazu geleistet, dass wir Kirchen bauen konnten oder überhaupt ein Auto für die weiten Wege in unwegsamem Gelände – Autobahnen gab es zu dieser Zeit nicht – zur Verfügung stand. Das verdanken wir allein diesem Hilfswerk für Osteuropa. Wobei letztlich die Akquise wirtschaftlicher Mittel noch das Einfachste war. Viel entscheidender war da die Frage des Priesternachwuchses, der in Leningrad ausgebildet wurde. Hier mussten Stipendien beschafft werden, damit die jungen Leute überhaupt studieren konnten. Wir brauchten zusätzliche Mitbrüder, Seelsorger.
Was sich gerade Bahn bricht, sind Proteste gegen die autoritäre Staatsführung, die zuletzt blutig niedergeschlagen wurden. Welche Aufgabe hat in dieser für die Menschen verzweifelten Lage die Kirche?
Börsch: Von ihren Mitgliedszahlen her ist die katholische Kirche in Kasachstan sehr klein und wird daher in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Von daher kann sie nicht wirklich viel bewirken. Was sie aber kann – und das tut sie immer – sich auf die Seite der Schwachen stellen und derer, die in Not sind. Und die Kirche kann beten. Denn das kasachische Volk glaubt an die Kraft des Gebetes. Schließlich gibt es kein stärkeres Mittel gegen Ungerechtigkeit.
Text – Domradiobeitrag vom 13. Januar/Beatrice Tomasetti