Die Zuhörer sind nicht bei der Sache. Die Gedanken schweifen ab. Anzeichen für eine schlechte Predigt? Jedenfalls sind Sender und Empfänger nicht gut „connected“. Woran das liegen kann, erklärt Homiletik-Experte Axel Hammes in einem Interview.
Herr Dr. Hammes, in diesen krisenhaften Zeiten hört man immer resignierter von ehemals engagierten Kirchgängern: „Mir gibt das alles nichts mehr. Vor allem die Predigt ging wieder total an mir vorbei. Diese theologischen Floskeln haben mit meiner Lebenswirklichkeit nichts zu tun.“ Mal ehrlich, ist Ihnen das bei Mitbrüdern auch schon passiert, dass Sie innerlich auf die Uhr geschaut haben?
Pfarrer Dr. Axel Hammes (Lehrbeauftragter für Homiletik am Bonner Priesterseminar und am überdiözesanen Priesterseminar Lantershofen): Als Ausbilder künftiger Prediger sollte ich doch „Profi“ im aufmerksamen und bewussten Zuhören sein! Bei privaten Kirchbesuchen hingegen, wenn ich selbst schon mal in der Bank sitze, ist mir wichtig, dass ich einen Prediger als echt, glaubwürdig und authentisch erlebe. Das war für mich schon ein entscheidendes Kriterium, lange bevor sich unsere Kirche einer erschütternden Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise stellen musste. Vieles spielt sich ja auf der emotionalen Ebene ab, wenn es um das Verhältnis von Sprache und Gedanken zu Mimik, Gestik und Agogik geht. Wir müssen von etwas Großem sprechen, das über uns hinausgeht. Nimmt da jemand vielleicht eher den Mund zu voll? Ich spüre eben gerne, hinter dem Gesagten steckt Gelebtes, Erfahrenes. Sonst kaufe ich es ihm nicht ab. Doch zunächst einmal halte ich jedem zugute, dass er mit ehrlichem Willen spricht und aufrichtig die Botschaft verkörpern will, um die es geht. Manchmal aber liegt es auch ganz bei mir als Zuhörer: Ich bin dann von eigenen Problemen und Gedanken so besetzt, dass der Prediger einfach schlechte Karten hat – womit jeder, der da vorne steht, auch rechnen muss.
Das ist sicher ein Phänomen, das wir alle kennen: Gibt es keinen spektakulären „Aufmacher“, mit dem wir gleich „gecatcht“ werden, drängen in solchen Momenten gerne persönliche Themen in den Vordergrund und wir sind nicht so ganz bei der Sache…
Hammes: Ich spreche lieber von einem „Türöffner“ als von einem „Catcher“. Denn ich will ja meine Gemeinde nicht manipulieren, sondern sie in ihrer Freiheit gewinnen. Da genügt es mir schon, wenn jemand einen einzelnen Satz mitnehmen kann, der ihn bewegt und ins Herz trifft. Und was das „Auf die Uhr Schauen“ angeht: Die Liturgie verträgt keinen Zeitdruck. Ich bin in diesem Heiligen Spiel zwischen Zeit und Ewigkeit angekommen, wenn das Kleinklein des Alltags von mir abfällt. Eine gute Predigt kann dann sieben Minuten oder auch mehr als doppelt so lange dauern. Aber natürlich weiß ich auch, dass es langatmige und lieblose Gottesdienste gibt. Im Spott über den, der auf der Kanzel oder am Ambo steht, hat sich schon immer die grundsätzliche Kritik an den inneren Widersprüchen der Kirche Luft gemacht.
Nochmals ganz besondere Herausforderungen bringt da unsere Zeit mit sich. Unmutsbekundungen gilt es ernstzunehmen, aber mit der Gelassenheit, wie sie überhaupt Christen gut ansteht, wenn man sie nicht mit Überheblichkeit und Arroganz gleichsetzt. Die Treue zum Evangelium, „ob gelegen oder ungelegen“, bleibt der erste und entscheidende Maßstab – und darüber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit demütiger Entschiedenheit zu sprechen.
Sie unterrichten angehende Diakone und Priester in Homiletik und haben es da mit ganz unterschiedlichen Begabungen zu tun. Ist Predigen eine Kunst, die man erlernen kann? Und wenn ja, warum gibt es dann so wenig begnadete Prediger?
Hammes: Ich bestreite, dass es nur wenige gibt, die das Zeug zu einem guten Prediger haben. Unser Ansatz in der Priesterausbildung ist ja zu schauen, welches außergewöhnliche Begabungsprofil jemand mitbringt. Und dieses besondere Charisma wollen wir fördern, damit der Kandidat es gezielt einzusetzen versteht und er in seiner Rolle als Verkündiger des Evangeliums wächst und stärker wird. Es gibt keine Passform für den idealen Prediger. Das wichtigste Medium ist er selbst mit seiner ganzen Person. Daher soll jeder auch nur mit den Mitteln in der Verkündigung arbeiten, die Gott in ihn hineingelegt hat, auch wenn diese ihm manchmal erst bewusst gemacht werden müssen. Schließlich ist das sein ureigener Auftrag. Dafür legte Gott in der Weihe seine Hand auf ihn. An uns Ausbildern ist es, ihm den notwendigen Mut zur Eigenständigkeit und seiner Individualität zu vermitteln. Denn so wie er kann es kein Zweiter. Aus diesem Grund sollte man auch nicht auf fertige Predigtvorlagen aus dem Internet zurückgreifen. Trotzdem kann und sollte jeder selbstverständlich Impulse von außen aufgreifen. Aber sie müssen verinnerlicht sein, bevor sie in die Verkündigung einbezogen werden.
Authentisch zu sein ist die Basis. Aber sie entbindet niemanden davon, sein Handwerk von Grund auf zu lernen und auch weiter zu trainieren. Selbst ich als Homiletik-Dozent lerne im regelmäßigen Austausch mit Priesteramtskandidaten noch ständig dazu. Kunst setzt das Handwerk voraus, aber auch die Begabung, die der eine mehr, der andere vielleicht weniger hat. Ziel ist, um es anschaulich zu machen, ein schlüssiges Bild zu malen – auch wenn die wenigsten davon fürs Museum taugen. Ansprechend aber sollte es sein. Es ist das verkündigte Gotteswort, das wirkt. Und die Predigt dient ihm. Sie sollte es nicht darauf anlegen, wie ein schützenswertes Denkmal bestaunt zu werden. So müssen wir nicht Sonntag für Sonntag Sätze hervorbringen, die in Stein gemeißelt sind. Denn die gibt es schon.
Was genau macht denn eine gute Predigt, die die Leute packt und „mitnimmt“, aus?
Hammes: Jede Predigt muss uns vor das Geheimnis Gottes stellen. Papst Franziskus sagt zu Recht: Der Prediger ist der Moderator für das Gespräch Gottes mit seinem Volk. Wir lesen aus der Heiligen Schrift vor, damit Gott uns jetzt ansprechen kann. Und für das Gelingen dieses Dialogs gibt es Kriterien.
Welche?
Hammes: Zunächst: Kontaktfähigkeit! Ich muss einen Kontakt, eine Beziehung zu meinen Zuhörern aufbauen. Zweitens: Ich muss anschaulich und konkret sprechen. Dann, wie es Jan Feddersen und Philipp Gessler in ihrem Buch „Phrase unser – die blutleere Sprache der Kirche“ darstellen, sollte eine Predigt Konfliktträchtiges, Schwieriges und Anspruchsvolles klar benennen und nicht weichspülen, geschweige denn ausblenden. Besser Widerspruch ernten als nur gleichgültiges Achselzucken. Dazu muss der Prediger aber auch wissen, was er bewirken will. Zielsätze zu formulieren, gehört zu den schwersten Übungen in der Predigtausbildung. Außerdem braucht jede Predigt eine gute Struktur mit einem erkennbaren Spannungsbogen. Das ist wie in der Architektur oder Musik: Man fühlt sich nur in einer Harmonie von Ordnung und Freiheit zuhause. Musik bewegt einen doch erst dann, wenn es auf einen Höhepunkt zuläuft und Töne nicht gleichförmig vor sich hinplätschern. Ich will schließlich der Gemeinde einen Impuls mitgeben. Und die Schönheit einer Melodie entfaltet erst dann ihre volle Wirkung, wenn sie gut vorbereitet wurde.
Ein letzter Punkt: Ich muss mir über meine Rolle als Verkündiger im Klaren sein. Die Predigt steht nicht für sich selbst. Sie ist Teil der Liturgie, nicht ihr Höhepunkt. Sie muss also gut eingebunden sein in das gesamte Geschehen, immer auch eine mystagogische Qualität besitzen, das heißt, einweisen in das Geheimnis, das wir gerade feiern. Man sollte daher merken, dass der Prediger an jedem Satz, den er sagt, persönlich beteiligt ist. Die Liebe zu Gott und den ihm anvertrauten Menschen muss ihm beim Predigen über die Lippen springen.
Wie sehr muss er denn eine Erwartungshaltung bedienen, eventuell tagesaktuelle Themen aufgreifen?
Hammes: Wenn uns etwas akut unter den Nägeln brennt, ist dagegen nichts einzuwenden. Aber machen wir uns nichts vor: Das Maß der Entfremdung vom überlieferten Glauben, von der gefeierten Liturgie und der kirchlichen Sprache ist groß. Viele Menschen tun sich mit einem Transzendenzbezug offensichtlich schwer. Und Säkularisierungsschübe machen auch vor dem Inneren der Kirche nicht Halt. Unsere Wahrnehmung der Welt mit überaus viel Inszenierung bestimmen die digitalen Medien. Wir werden mit Input nur so befeuert. Solche Erwartung wird schnell auf den Gottesdienst übertragen. Die Geduld, jemandem länger zuzuhören, schwindet. Für den Prediger wird es immer schwerer, einen Spannungsbogen zu erzeugen und diesen zu halten.
Zu viele „Anreize“ in der Verkündigung – Sie nennen das „Catching“ – laufen Gefahr, dass die eigentliche Botschaft grell überblendet wird. Es geht ja nicht zuerst um gute Stimmung, um Anerkennung und Beifall. Gewiss: Das Brot des Künstlers ist der Applaus. Dem Prediger aber kann es zum süßen Gift werden, das ihn zur Banalität verleitet. Das Evangelium aber war von Anfang an Stein des Anstoßes. Wo es keinen Widerspruch mehr provoziert, haben wir es klein geredet in gefällige Trostpflaster. Von daher erfordert es viel geistliche und gedankliche Vorarbeit, die Botschaft bündig und schlüssig auf den Punkt zu bringen. Den meisten Seelsorgern lässt ihr immer größeres pastorales Pensum kaum noch die nötige Zeit dazu.
Im christlichen Glauben wagen wir immer den Spagat, einerseits die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten radikal ernst zu nehmen, aber genau darin auch auf das nahe Gottesreich, diese andere Welt zu verweisen, die jede flüchtige Aktualität überdauert. Wer predigt, macht keine Tagespolitik. Wir sollten vielmehr prophetisch an den Rand des Geschehens treten: ein optimaler Standort, um nach den Worten des letzten Konzils die „Zeichen der Zeit zu erkennen und im Licht des Evangeliums zu deuten“.
Trotzdem fühlen sich die Leute „abgeholt“, wenn sie in politisch oder sozial aufgeheizten Zeiten Empfehlungen oder Impulse für ihren ganz konkreten Alltag bekommen…
Hammes: Natürlich liegt manchmal etwas in der Luft, was alle beschäftigt – zum Beispiel der Ukraine-Krieg. Schon der Begriff „Evangelium“ ist ja dem Politischen entlehnt und meint eine Botschaft, die unsere ganze Realität zum Guten wenden wird. Wie könnten wir da ignorieren, was heute voller Sehnsucht auf eine solche Wende wartet? Aber unsere Perspektive darauf ist der überlieferte Glaube. Daraus versuchen wir zu entziffern, wie sich auch heute der Wille und der Plan Gottes erfüllen. Auch und gerade die Krisen und Konflikte innerhalb der Kirche gehören in die Verkündigung, bloß nicht als reine Nabelschau! Das Spektrum reicht da vom großen Lamento über die Beschwörung von Gehorsam und Treue bis zum schlichten Weglächeln. Selten erlebe ich den Mut, sich selbst nachdenklich infrage zu stellen und um die Wahrheit zu ringen. Wie soll es da zur Läuterung der Kirche kommen? Bekanntlich beginnt die doch bei mir selbst.
Predigen ist Teil eines Dialogs, eines Beziehungsgeschehens, wie Sie sagen, und keine akademische Vorlesung oder Frontalunterricht von der Kanzel herunter. Nehmen Sie die Reaktion der Leute während Ihrer Predigt wahr, zum Beispiel ob sie aufmerksam zuhören oder sich innerlich verabschieden? Anders gefragt: Haben Sie Ihre Zuhörer achtsam im Blick und können Sie darauf unter Umständen sogar ad hoc reagieren?
Hammes: Ohne Kontakt zu meinen Zuhörern ist Predigen sinnlos. Wobei die Gemeinde aber vor allem erleben sollte, dass die Predigt gerade aus dem Kontakt zu dem sprechenden Gott entsteht. Ich habe gelernt, mich nicht gleich ablenken oder gar einschüchtern zu lassen, wenn jemand den Kopf senkt, ein Bonbon aus der Tasche kramt, mit seinem Nachbarn tuschelt oder die Blicke im Raum scheinbar ziellos umherschweifen. Das kann, muss aber nicht immer bedeuten, dass jemand nicht zuhört. Natürlich freue ich mich über spürbare Aufmerksamkeit, trotzdem bin ich bei Deutungsversuchen zurückhaltend. Essentiell ist wirklich, mit der Gemeinde in Kontakt zu sein. Bei aller Konzentration auf das, was ich sagen will, kriege ich viel mit und reagiere auch darauf. Im Übrigen vertraue ich immer darauf, dass der Heilige Geist an meiner Seite steht. Kein Prediger kann alle erreichen. Und nochmals: Die Predigt ist nur ein Teil des Gottesdienstes, der Begegnung mit dem lebendigen Gott.
Papst Franziskus hat gleich zu Beginn seines Pontifikats in seinem Schreiben „Evangelii gaudium“ klargestellt: „Die Homilie ist der Prüfstein, um die Nähe und die Kontaktfähigkeit eines Hirten zu seinem Volk zu beurteilen.“ Was bedeutet das im Umkehrschluss angesichts der massiven Kirchenaustrittszahlen?
Hammes: Predigen verfangen nicht, weil wir einen jahrzehntelangen Entfremdungsprozess der Menschen von der Kirche und ihrem Glauben viel zu lange nicht wahrhaben wollten. Mittlerweile ist die Glaubwürdigkeit der Kirche fundamental erschüttert. Es gibt keinen Vorschuss mehr. Im Gegenteil: Das verloren gegangene Vertrauen muss mühsam und neu erarbeitet werden. Von daher berührt mich der Satz von Papst Franziskus sehr, zielt er doch darauf ab – wie er an anderer Stelle formuliert hat – dass die Hirten den Stallgeruch der Schafe annehmen sollten. Ihm geht es um das Selbstverständnis des Priesters. In welcher Haltung begegnet er den ihm anvertrauten Menschen? Teilt er als Seelsorger mit ihnen das Leben? Lässt er sich von dem berühren, was für sie wesentlich ist und was sie im Herzen tragen – auch vom „Schmutz und Gestank“ des Alltags? Hat er Freude an solcher Nähe? Das ist die spirituelle Seite. Was die pastorale Seite angeht: Seelsorge geschieht nur in und durch Beziehung. Sie erfordert nach wie vor die direkte Berührung mit Menschen vor Ort. Dass ich vor Menschen predige, die ich gar nicht kenne, sollte daher die Ausnahme bleiben. Insofern trifft Papst Franziskus für mich einen ganz wichtigen Punkt.
Die sonntägliche Predigt verdient alle Sorgfalt und hohes Engagement. Sie kann und soll nicht zuletzt denjenigen Mut machen, die immer noch zur Kirche stehen. Deren Glauben soll sie stärken und vertiefen. Natürlich, die hohen Kirchenaustrittszahlen bedrängen auch mich. Doch der Kirche darf es nicht um den Selbsterhalt ihres Apparates und größere Mitgliederzahlen gehen. Sie ist dazu bestimmt, das Sakrament der sichtbaren Präsenz Gottes in seinem Volk zu sein. Sonst könnte jeder Prediger schnell zu einem Marktschreier verkommen, der das Evangelium den Leuten wie ein billiges Produkt zu Ramschpreisen unterjubeln will.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti für DOMRADIO.DE