Kreuzweg – Station 10

Jesus wird seiner Kleider beraubt

Station-10
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Nachdem die Soldaten Jesus ans Kreuz geschlagen hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen. Sie nahmen auch sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war. Sie sagten zueinander: Wir wollen es nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll. So sollte sich das Schriftwort erfüllen: Sie verteilten meine Kleider unter sich und warfen das Los um mein Gewand.
(Joh 19, 23f)

Jesus wird entkleidet, vor den Augen der gaffenden Menge wird er entblößt. Mit kalter Brutalität wird Jesus eine Nacktheit aufgezwungen, die bewusst seine Menschenwürde missachten will. Es geht nicht nur um seine physische Vernichtung; diese „Enthüllung“ soll ihn demütigen und ihm auch den allerletzten Schutz einer Intimsphäre rauben. Jesus erträgt auch dies; seine entblößte Gestalt ruft Bilder unserer jüngsten Geschichte wach: Nackte KZ-Häftlinge vor dem Selektionskommando… Aber nicht nur an solch entwürdigende körperliche Entblößung erinnert seine Gestalt; auch die zahllosen durch „Enthüllungsgeschichten“ Bloßgestellten und in ihrer sozialen Existenz Vernichteten dürfen sich in ihm wiederentdecken.

Die Gestalt Jesu macht die ganze Wucht dieser Attacke sichtbar: es ist, als zöge sie sich zusammen, als beugte sie sich unter diesem Schlag gegen seine menschliche Würde. Zugleich aber ist sein Blick nicht niedergeschlagen, sondern voll auf die gerichtet, die ihm diese Nacktheit zumuten, die ihn in seiner Blöße begaffen. „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Aber – sind nicht wir es, die heute dieser Blick trifft? Wir, die Kirche Jesu Christi, die von sich selbst singt „Jesu Werk in unseren Händen, Jesu Geist in unseren Werken“. Der Künstler bringt absichtsvoll uns, die Kirche, ins Bild – nicht die Soldaten, die zwar Jesu Kleider unter sich verteilten, aber den Leibrock in seiner unversehrten Ganzheit respektierten; diesen Leibrock, der immer als ein Symbol der einen, ganzen, unzerteilten Kirche verstanden wurde. Unsere Station konfrontiert uns mit dem Skandal der Spaltung; der Leibrock Jesu ist zerrissen durch eine Christenheit, die ihre Einheit schuldhaft verraten hat, die sich seit einem Jahrtausend wechselseitig exkommuniziert und so vor den Augen der Welt Christus und seine Botschaft der Glaubwürdigkeit entkleidet.

Gewiss, in unseren Tagen ist es weniger ein wütendes Gezerre an diesem Rock, weniger der Versuch, den ganzen Rock allein für sich selbst zu reklamieren; vielmehr zeigt uns Sieger Köder die Repräsentanten der orthodoxen, der katholischen und der reformatorischen Kirchen als Gestalten, die fromm-versunken mit sich selbst und ihrem Zipfel des zerteilten Leibrocks beschäftigt sind, selbstgenügsam, ohne Blick für die anderen, gefangengenommen von der eigenen Perspektive und den eigenen Zielen. So gilt es auch für die vierte Gestalt, deren Anteil am Rock Jesu sich verwandelt in eine blutrote und blutgetränkte Fahne, die revolutionäres Pathos signalisiert. Wer mag damit gemeint sein? Vielleicht Christen, welche die Befreiungsbotschaft des Evangeliums nicht nur in einem geistlichen, sondern auch in einem realpolitischen Sinne verstanden wissen wollen; die darum kämpfen, dass endlich „die Mächtigen vom Thron gestürzt und die Niedrigen erhoben werden“? Oder verbirgt sich hier ein Hinweis auf das erschreckende Gewaltpotential, das unter christlicher Flagge – ganz gegen die Absichten Jesu – seine blutige Spur durch die Geschichte zieht?

Wir werden dem selbstkritischen Stachel nicht ausweichen dürfen, der in diesem Bild steckt. Sonst wirken wir mit daran, dass die„ Sonne der Gerechtigkeit“ verfinstert bleibt. Der Künstler rückt diese „Sonnenfinsternis“ hinter das Antlitz Jesu, und umgibt es so wie mit einem schwarzen Heiligenschein. Nicht nur auf Golgatha, auch in der zweitausendjährigen Geschichte seither wird die Herrlichkeit Gottes auf Jesu Antlitz verfinstert durch Menschen, „die nicht wissen, was sie tun“. Aber wie die Korona bei einer Sonnenfinsternis die Urgewalt des verdeckten Sonnenfeuers ahnen lässt, so brechen auch auf unserem Bild hinter der schwarzen Scheibe Strahlen hervor, die uns hoffen lassen, dass alle blindwütigen menschlichen Verdunklungsbemühungen das göttliche Licht letztlich nicht auslöschen können.

 

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