Der Berliner Erzbischof Heiner Koch predigte am zweiten Konferenztag der DBK in Bensberg über Berufung und Sendung
„Zukunft und Lebensweise des priesterlichen und bischöflichen Dienstes“ lautete das Thema, mit dem sich die 66 Bischöfe an ihrem Studientag, den es immer bei einer solchen Vollversammlung gibt, auseinandersetzten. Dieser Studientag knüpfte an den Brief der deutschen Bischöfe an die Priester aus dem Jahr 2012 und an ihr Wort „Gemeinsam Kirche sein“ von 2015 zur Erneuerung der Pastoral an. In diesem Wort ging es um die Sendung und Aufgabe der ganzen Kirche für die Gesellschaft. Beim Studientag in Bensberg nun ging es speziell um die Konsequenzen, die die veränderten Bedingungen des priesterlichen Dienstes und Lebens mit sich bringen. Im Mittelpunkt stand also nicht die Frage nach dem Priestermangel allgemein oder der zölibatären Lebensform im Besonderen, sondern die Frage nach dem Gelingen eines Lebens und Wirkens als Priester in der heutigen Zeit.
Bischof Dr. Felix Genn aus Münster, Vorsitzender der Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste, hob einleitend hervor, dass Bischöfe, wenn sie über Priester sprechen, immer auch sich selbst reflektieren würden. Genn wies auf das qualitativ neue Niveau der Erwartungen und Anforderungen hin, das die Gläubigen und die Bischöfe von den Priestern erwarten. „Angesichts dessen erweist sich das Leitbild einer umfassenden seelsorglichen Verantwortung nicht selten als menschliche und geistliche Überforderung. Herkömmliche Leitbilder vom Pfarrersein tragen nicht mehr“, heißt es dazu im offiziellen Abschlussbericht der Bischofskonferenz. Wie aber die Priester den religiösen Charakter ihres Amtes in den neuen, komplexen kirchlichen und gesellschaftlichen Strukturen ausgestalten und ihre priesterliche Identität neu ausbilden sollen – das gehörte zu den offenen Fragen, die von dem Gremium einen halben Tag lang diskutiert wurden.
In der Frühmesse am Morgen hatte der Berliner Erzbischof Dr. Heiner Koch, der der Pfarrgemeinde St. Nikolaus und St. Joseph aus seiner Zeit als Kölner Weihbischof sehr vertraut ist und daher in Bensberg auf viele alte Bekannte traf, dieses Thema in seiner Predigt vorweggenommen und dazu ein paar geistliche Impulse gesetzt.
Die Predigt von Erzbischof Dr. Heiner Koch ist nachfolgend im Wortlaut dokumentiert:
„Fragen der Berufung wollen wir Bischöfe uns am heutigen Studientag unserer Bischofskonferenz stellen, voller Sorgen etwa angesichts der Zahl der Priesterweihen, aber hoffentlich auch voller Gottvertrauen. Die Lesung der Eucharistie an diesem Morgen stellt uns in der Geschichte der Berufung des Jona Grundzüge jeder Berufungsgeschichte eines Menschen vor Augen: Jona hört den nur ihm eigenen Ruf Gottes. Ganz persönlich gibt er seine Antwort auf dieses an ihn gerichtete Wort Gottes. Berufung ist ein urpersönlicher Dialog zwischen Gott und dem Berufenen. In einem packenden Lernprozess entfaltet Jona in einem höchst existenziellen Ringen seine Berufung; in einem Ringen mit sich selbst und vor allem im Ringen mit Gott. Berufung ist und bleibt eine lebenslange Geschichte, ein lebenslanges Suchen, Antworten und Neu-Fragen. Kein Mensch wird auf sich hin berufen. Zu jeder Berufung gehört wesentlich – wie auch bei Jona – die Sendung. Er wird zu den Menschen in der großen Stadt Ninive gesandt. „Ninive war eine große Stadt vor Gott; man brauchte drei Tage, um sie zu durchqueren“ (Jona 3,3). Die Größe von Ninive erinnert mich an Berlin mit seinem Durchmesser – von Ost nach West – von 45 Kilometern.
Spätestens bei der Reaktion der Bewohner von Ninive aber merke ich, wie sehr sich Berlin von Ninive unterscheidet: Wenn Jona heute rufend durch Berlin gehen würde, so würden ihn die meisten inmitten der lauten Stimmen dieser Stadt gar nicht hören und sein Rufen im großen Wirrwarr der Stimmen kaum wahrnehmen: In Berlin gibt es nichts, was nicht irgendeiner laut herausschreit; in dieser beliebigen Buntheit der Stimmen würde auch einer, der im Auftrag eines Gottes zur Umkehr ruft, entweder nur müde belächelt oder mit einem Applaus für seine Originalität als irrelevant von der Bühne verabschiedet werden. Selbst wenn Menschen ihn wahrnehmen, seine Stimme gelten lassen würden, so würden die einen ihn ablehnen, weil er zu viel Verbindlichkeit fordert, die zu erbringen man nicht bereit ist. Im Osten würden sie sich nach Jahrzehnten der DDR prinzipiell gegen jegliche Vereinnahmung – erst Recht durch die Kirchen – (ver)wehren. Die meisten aber würden Jona nicht folgen, weil sie nicht an einen Gott glauben und dieses Nichtglauben als Akt der Freiheit eines großen und mündigen Menschen bewerten: Gut, dass es keinen Gott gibt, erst recht keinen, der sich vor mir mit seinen Ge- und Verboten aufbaut. „Wir glauben an keinen Gott, das macht unsere Größe und Würde aus, wir sind so frei: Gott sei Dank, dass es keinen Gott gibt!“ Von daher ergibt sich auch nicht die Notwendigkeit einer Umkehr zu Gott, die ohnehin als Umkehrprozess so anstrengend und schwierig ist wie alle menschlichen Erneuerungsprozesse. Was sollen von Gott Berufene wie Jona, was sollen wir Christen mit unserer Berufung und Sendung da machen?
Sollen wir unsere Berufung verweigern und unser Leben nach eigenem Gutdünken führen, nach Tarschisch fliehen, das genau entgegengesetzt zu Ninive liegt, wohin Gott den Jona senden wollte? Sollen wir lieber in der vertrauten Umgebung bleiben, statt ins fremde Ninive aufzubrechen, in unserem kirchlichen Milieu, wo alles überschaubar und geordnet ist, wo wir Akzeptanz finden? Sollen wir uns auf unsere kleinen Gemeinden zurückziehen, in denen wir eindeutig und alternativ zum fremden und manchmal so unchristlichen Ninive leben können?
Oder sollen wir Jesus Christus, den Kern unserer Botschaft, aufgeben und lieber das verkünden, was die Menschen hören und annehmen wollen, wenn sie schon nicht hören und annehmen wollen, was wir wollen?
Wie sollen in dieser Situation Berufene ihre Berufungsgeschichte leben vor Gott und den Menschen? Jona und seine Geschichte geben einige bewegende Hinweise: Manchmal muss ein Berufener sich unter die Rizinusstaude setzen: mit seiner ganzen Erschöpfung, seinen unerfüllten Erwartungen, seinem Nicht-Gefragt-sein. Manchmal darf er sich zugestehen, verdrossen wie Jona zu sein und über Bord gehen zu wollen, unterzugehen in den Tiefen des Meeres oder Zeiten des Dunkels zu erleben wie Jona im Bauch des Fisches. Die Geschichte der Berufenen ist nicht immer eine strahlende Geschichte. Das war sie nicht bei Christus und das war sie nicht bei vielen Heiligen. Manches Mal ist unsere Berufung zum Davonlaufen, manchmal ist alles zum Verwünschen!
Vielleicht wächst gerade in jenen Stunden die Erkenntnis, dass wir vor allem unserem Tun und Schaffen das sind, was der hebräische Name Jona auf Deutsch bedeutet: „Taube“. Die Taube ist in der Heiligen Schrift schon früh – bei Noah etwa – ein Bild für das göttliche Leben und insbesondere für den lebensspendenden Gott, für den Heiligen Geist, den Schöpfergeist selbst: Diese Botschaft des auch in Ninive wirkenden Geistes Gottes soll Jona in diese Stadt der Sünde bringen. Für diesen lebenskreativen Gott und seine Botschaft sollen nicht nur seine Worte stehen, für sie steht der von Gott Berufene mit seinem ganzen Leben. Seine Berufung zu leben bedeutet für Jona und für jeden Berufenen von daher, in der Nähe dessen zu leben, der uns in unserer Berufung mit der Botschaft des Lebens, der Botschaft der Taube, zu den Menschen sendet; bedeutet, zu leben in und aus dem Geist Gottes. Ohne diese immer wieder zu gewinnende und zu haltende Nähe zum schöpferischen Geist Gottes verliert jede Berufung ihre Lebenskraft. „Nur wer nah genug am Feuer ist, kann brennen“, schreibt Origenes.
Gott bleibt in der Erzählung des Jona hartnäckig. Sein Wort ergeht zum zweiten Mal an Jona. Da macht sich Jona ohne tiefe Begeisterung aber irgendwie pflichtbewusst vor Gott doch auf den Weg und verkündigt in Ninive nur wenige Worte: „Noch 40 Tage, und Ninive wird zerstört.“ Berufen sein heißt, sich auf den Weg machen. Wir bleiben nicht sitzen und ziehen uns nicht in unsere vertraute Welten zurück. Wir lassen uns ein auf dieses bunte, oft so unerlöste Treiben von Ninive. „Im Grau des Lebens nach dem Willen Gottes vorgehen“, so hat es Papst Franziskus umschrieben.
Seiner Berufung folgen heißt dann aber auch, wie Jona zu entdecken, wie plötzlich das Wunder des Lebens Gottes neu aufbricht, wo wir es nicht erwarten. Denn Gott ist schon längst da bei den Menschen, bevor wir ihnen Gottes Wort verkünden. Wir bringen Gott nicht den Menschen, er lebt schon längst in und zwischen ihnen. Unsere Aufgabe ist es, mit den Menschen die Nähe Gottes in ihrem Leben entdecken zu lernen, in Ninive, in Berlin und an manchen anderen angeblich gottlosen Orten. Vielleicht werden wir dann wahrnehmen, dass uns kein anderes Zeichen gegeben ist als die vielen Zeichen für Gottes Nähe in Ninive, in Berlin oder wie auch immer die Orte heißen, zu denen Gott uns sendet. Und plötzlich können wir entdecken, wie wundervoll Gott wirkt in Ninive und in Berlin, in Bensberg und in Rom und wie die Orte heißen, die unsere Bestimmung sind.
Da lassen sich Eltern an diesem Osterfest taufen, weil sie ihr seit der Geburt schwerstbehindertes Kind als Geschenk Gottes sehen gelernt haben. Da ergreift ein bekennender Atheist in einem unserer Krankenhäuser sterbend den Rosenkranz der neben ihm stehenden Ordensschwestern und stirbt mit den Worten „Ich glaube“. Da lassen sich mehr als 120 Erwachsene allein in Berlin in der kommenden Osternacht taufen. Sie erzählen uns von ihrer Berufung und werden damit auch zu einer Frage an jeden von uns und an unsere Antwort auf unsere Berufung. „Das Wort des Herrn erging an Jona“, so fing die Erzählung des Jona an. Mit einer Frage Gottes hört sie auf: „Ich soll nicht Mitleid haben mit Ninive?“ Jona gibt auf diese Frage Gottes an ihn keine Antwort. Das ist die eigentliche Tragik dieser Erzählung, die Tragik der Berufungsgeschichte des Jona, wohl auch die Tragik vieler Berufener heute.“
Foto – Alexander Föxius