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„Wir müssen uns trauen loszugehen“

Kardinal Woelki fordert pastorale Neuorientierung

Den Abschied von einer „versorgenden Kirche“ hin zu mehr Partizipation der Laien hat Rainer Maria Kardinal Woelki in seinem soeben erschienenen Hirtenbrief zur Fastenzeit [1] angekündigt.
Er ruft die Katholiken auf, sich an einer grundlegenden Neuausrichtung der Kirche zu beteiligen. Angesichts des wachsenden personellen Mangels seien die bisherigen Konzepte wenig sinnvoll, die nur darauf abzielten, „Löcher zu stopfen“. Künftig solle unter bestimmten Voraussetzungen auch über Formen der Gemeindeleitung durch Laien nachgedacht werden. Das setze voraus, dass diese in den Ortskirchen mehr Eigenverantwortung übernähmen, aber auch von Priestern und hauptamtlichen Seelsorgern „auf Augenhöhe“ wahrgenommen würden. Manche vertrauten Formen kirchlichen Lebens müssten sich wandeln und an die Wirklichkeit angepasst werden, sagt Woelki.
Im Gespräch mit dem Chefredakteur der Kirchenzeitung Köln, Robert Boecker, erläutert der Kölner Erzbischof, wie seine Vision einer Kirche der Zukunft aussieht.

Mit Ihrem Hirtenwort zur Fastenzeit haben Sie im vergangenen Jahr einen „programmatischen Aufschlag“ im Hinblick auf die zukünftige Entwicklung des Erzbistums gemacht. Setzt das kommende Hirtenwort diese grundsätzlichen Überlegungen fort?
Ja, mein Hirtenwort in diesem Jahr verstehe ich als eine weitere wichtige Etappe auf dem im vergangenen Jahr begonnenen geistlichen Weg zur pastoralen Neuorientierung unseres Erzbistums.

Wohin wird oder soll dieser geistliche Weg führen?
In eine gute Zukunft der Kirche von Köln! Ich wünsche mir, dass wir alle miteinander in unserem Erzbistum immer mehr eine Kirche werden, die freudig und glaubhaft die frohe Botschaft von der Liebe Gottes zu allen Menschen lebt und vorlebt. Eine Kirche, in der wir uns beheimatet fühlen und unseren eigenen Glauben nähren können, weil wir Christus in unserer Mitte erfahren: in der Eucharistie, im Wort Gottes, in der Gemeinschaft. Eine Kirche, in der alle Getauften ihre Gaben einbringen können und sich mitverantwortlich fühlen. Eine Kirche, die ihre Sendung in und für die Welt, für ihren konkreten Lebenskontext entdeckt und lebt, die Anwalt ist für die Armen und Schwachen, die Unrecht beim Namen nennt und dagegen ankämpft. Eine Kirche, die wieder verstärkt anziehend und lebensrelevant ist für die Menschen. Ich könnte noch lange weitersprechen von dieser künftigen Kirche, die ja auch von vielen Katholiken in unserem Erzbistum ersehnt wird.

Wie kommen wir dahin?
Diese Antwort ist nicht so leicht zu geben. Wir wissen, dass wir eine solche „Zukunftskirche“ nicht einfach „machen“ können. Christus muss seine Kirche bauen. Was wir tun können, ist, uns auf den Weg zu machen wie Abraham. So wie er auf Gottes Wort hin alles zurückgelassen und sich aufgemacht hat, um einer zuerst ungewissen Zukunft entgegenzugehen, so müssen wir als Ortskirche vielleicht auch in manchem Abschied nehmen und Vertrautes zurücklassen. Dabei dürfen wir darauf vertrauen, dass Christus mit uns unterwegs ist. Mit ihm können wir uns vertrauensvoll auf den Weg in die Zukunft machen. Damit wird auch klar, dass unser Zukunftsweg ein geistlicher Weg sein wird, der alle Dimensionen unseres kirchlichen Lebens betreffen wird, ja muss. Denn so wie bisher kann es allein nicht weitergehen. Vieles ist gut. Doch wir sehen auch, wie wenig Lebensrelevanz inzwischen Glaube und Kirche für viele Menschen hat, für Junge und Alte und auch in unseren eigenen Familien. Wir spüren, dass die augenblickliche Form unseres Kirche-Seins vielerorts nicht mehr so recht passt. Eine prophetische Kraft geht nur noch eher selten von uns Christen aus. Auch sind wir kaum noch missionarisch und evangelisierend tätig. Doch Gottes Geist bewegt unsere Herzen. Wir leben mit dem Vertrauen, dass die Kirche für sich immer wieder neu Formen gefunden hat, die Antwort gaben und geben auf die Herausforderungen der jeweiligen Zeit.

Müssen die anstehenden Veränderungen auch im Lichte der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen werden?
Unbedingt! Wir alle wissen, wie anders heute kommuniziert, Wirtschaft und Politik betrieben, Leben gedacht und gestaltet, gearbeitet und auch geglaubt wird. Da ist es ein Geschenk, dass schon das Zweite Vatikanische Konzil viele Beschlüsse vor dem Hintergrund des damals bereits absehbaren gesellschaftlichen Wandels getroffen hat. Diese hatten das Ziel, diesen Wandel nicht einfach über uns hereinbrechen zu lassen, sondern ihn aus dem Glauben heraus aktiv mitzugestalten. Auch wir sollten die Veränderungen in vielen Bereichen von Kirche und Gesellschaft als Zeichen der Zeit lesen und als unsere heutigen Herausforderungen mutig annehmen.

Was bedeutet dies für die Zukunft?
Wir sind gemeinsam Volk Gottes. Gemeindliches Leben findet nicht nur dort statt, wo der Priester ist. Das ist ein wichtiger Grundsatz, den es zu verinnerlichen gilt. Gemeindliches Leben ist überall dort, wo Menschen in Jesu Namen und in Einheit mit der großen, der Weltkirche zusammenkommen, in unterschiedlichen Formen Gottesdienst feiern, in Wort und Tat den Glauben bezeugen und ihren Nächsten dienen.

Darf man daraus auf eine neue Personal- und Pastoralplanung im Erzbistum schließen?
„Personal- und Pastoralplanung“, das klingt nach dem Verfassen langgültiger Konzepte und Papiere. Das wird vermutlich so nicht mehr gehen. In der Vergangenheit waren viele unserer pastoralen, personellen und strukturellen Maßnahmen darauf ausgerichtet, die bestehende kirchliche Versorgung auch in einer sich zuspitzenden Mangelsituation aufrechtzuerhalten. Das schaffen wir nicht mehr – und es ist auch nicht das, was uns als Kirche zukunftsfähig macht! Vielmehr möchte ich mit allen Beteiligten schauen, wie wir Kirche und damit Pastoral leben können: mit dem Personal, das wir haben (mehr haben wir nicht!), doch eben auch mit dem Potenzial und den Gaben all der Menschen in den Gemeinden. Dabei geht es nicht ums Löcherstopfen, sondern darum, als Glaubensgemeinschaft in Jesu Christi Namen zur Fülle unserer Möglichkeiten zu gelangen. Dazu müssen wir unser Planen, doch vor allem uns alle miteinander geistlich neu ausrichten.

Wie kann eine solche Neuausrichtung aussehen?
Es ginge zunächst einmal darum, das Wort Gottes zum steten Ausgangspunkt unseres Nachdenkens und Handelns zu machen. Ich glaube fest daran, dass eine solche Praxis uns als Kirche verändern wird, unser Beten, unsere Umgangsformen genauso wie unsere Entscheidungen und die Akzente, die wir im Hinblick auf die Zukunft unserer Ortskirche setzen werden. Hier können wir sehr viel aus anderen Ortskirchen lernen. Unser Leben und Glauben vor Gott miteinander anschauen und IHN in all unser kirchliches Engagement hineinsprechen lassen: ich wünsche mir, dass wir unsere Scheu verlieren, uns dafür Zeit zu nehmen, weil die Tagesordnungspunkte ja alle so wichtig sind – ob im Erzbischöflichen Rat oder im Kirchenvorstand. Wir können doch Kirche nicht in erster Linie aus unseren eigenen Gedanken heraus gestalten, sondern stets ausgehend von einem sensiblen Hören auf Gottes Wort.

Und in die Beantwortung der sich aktuell stellenden Fragen sollen alle Christen in den Gemeinden, Pfarreien und Seelsorgebereichen mit einbezogen werden?
Ja, ich wünsche mir, dass möglichst viele mittun. Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche als pilgerndes Volk Gottes bezeichnet hat, in dem jede und jeder Getaufte Charismen geschenkt bekommen hat, durch die sie oder er zum Leben der Kirche und deren Sendung in dieser Welt beitragen kann. Wenn wir das ernst nehmen, wird die Kirche der Zukunft im Erzbistum Köln keine von Hauptberuflichen mehr versorgte Kirche sein, sondern eine miteinander gestaltete, getragene und verantwortete Kirche.

Diese Ideen sind nicht neu. Ist es nicht so, dass bislang ein solches Denken, wie Sie es beschreiben, wenig erwünscht war?
Es wurde jedenfalls zu wenig unterstützt. Mitte der 1970er-Jahre formulierte die Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland: „Aus einer Gemeinde, die sich pastoral versorgen lässt, muss eine Gemeinde werden, die ihr Leben im gemeinsamen Dienst aller und in unübertragbarer Eigenverantwortung jedes Einzelnen gestaltet.“ Leider müssen wir heute zugeben, dass die Wirkung dieser Einsicht begrenzt blieb.

Wird das jetzt anders?
Ich denke, dass wir uns als Ortskirche tatsächlich neu aufstellen sollten. Dabei müssen wir uns von einer versorgenden Kirche verabschieden. Meine große Bitte an die Getauften und Gefirmten in unserem Erzbistum ist: Denken Sie mit mir und allen, die im Erzbistum Verantwortung tragen, über unser zukünftiges Kirche-sein gemeinsam nach. Entwickeln Sie mit mir eine Vision von Kirche, die in unseren Realitäten wurzelt.

Wie soll aus der Vision Wirklichkeit werden?
Wir müssen uns trauen, loszugehen. Dabei ist mir klar, dass dieser Zukunftsweg aufgrund der örtlichen Verschiedenheiten in unserem Erzbistum mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten und auf unterschiedliche Art gegangen wird. Wir werden neu lernen, was Einheit in Vielfalt bedeutet. Wir müssen miteinander beten, diskutieren, suchen. Ich bin mir bewusst, dass es in diesem Prozess auch zu Konflikten kommen wird. Das darf auch sein! In der Weise aber, wie wir mit diesen Konflikten umgehen, wird sich uns Gottes Geist zeigen ebenso wie in den Lösungen, die wir mit Gottes Hilfe finden – wenn wir nur auf ihn hören.

Wird es Veränderungen im Hinblick auf die Leitung von Pfarreien geben, die bislang Priestern vorbehalten ist?
Auch in Zukunft werden Pfarreien und Seelsorgebereiche von Priestern geleitet werden. Doch auch die unterhalb der Pfarrebene liegenden Gemeinden und Kirchorte benötigen eine gute Leitung. Sie könnte unter bestimmten Voraussetzungen in Zukunft auch von einer Gruppe von Getauften und Gefirmten wahrgenommen werden.

Wie wichtig wird in Zukunft Teamarbeit?
Sie ist von entscheidender Bedeutung. Keiner kann heute mehr die oft komplexen Fragestellungen und Probleme allein lösen oder die gestiegenen Anforderungen allein erfüllen – auch nicht in der Kirche. Viele, die sich heute in der Kirche engagieren, kennen aus ihren beruflichen Kontexten eine hochqualifizierte Teamarbeit. Sie erwarten in ihrem kirchlichen Engagement – zu Recht – von den Hauptberuflichen in der Pastoral ebenso auf Augenhöhe wahrgenommen zu werden: als mündige Christen. Teamfähigkeit ist darum auch für diese eine immer wichtigere Qualifikation, an der wir arbeiten und in der wir uns entwickeln müssen.

Nachgefragt: Muss sich dann nicht das Selbstverständnis der Hauptberuflichen in der Seelsorge ändern?
Viele unserer Priester, Diakone und Mitarbeitenden in der Pastoral sind schon keine „Versorgenden“ mehr, die alles alleine tun wollen oder sollen. Die Herausforderung ist, unsere Arbeit als Geweihte oder als Hauptberufliche im kirchlichen Dienst in dem Sinne zu verändern, dass wir noch mehr zu geistlichen Begleitern, Unterstützern und Vernetzern unserer engagierten Getauften werden.

Was bedeutet das für die Menschen in den Gemeinden?
Alle sind eingeladen, in der Breite mehr Verantwortung und Gestaltung in der Kirche zu übernehmen und nicht alles von den „Profis“ zu erwarten. Es geht nicht darum, dass die heute schon oft sehr belasteten Engagierten in den Gemeinden noch mehr tun sollen. Vielmehr geht es darum, miteinander zu entdecken und schätzen zu lernen, wer wir als Kirche sind: Volk Gottes, in dem jede und jeder Getaufte eine Gabe Gottes geschenkt bekommen hat, die wir je so einbringen können, wie niemand anderes es könnte.

Was sollte in den Seelsorgebereichen getan werden, um diesen Prozess in Gang zu setzen?
Vor Ort könnte zum Beispiel mit einer Gesprächsveranstaltung zu meinem Fastenhirtenbrief begonnen werden, könnte gemeinsam überlegt werden, was die Gedanken darin konkret „für uns“ bedeuten. Wenn sich eine Pfarrei oder ein Seelsorgebereich dann konkret auf den Weg machen will, können sie Anregungen bei der neuen Diözesanstelle für den pastoralen Zukunftsweg im Erzbistum Köln erhalten, die ab April ihre Arbeit aufnehmen wird. Und auch die bestehenden Begleitungs-, Beratungs- und Unterstützungssysteme, die wir im Erzbistum haben, stehen jetzt schon im Dienst dieses geistlichen Prozesses. Gott wird uns – wie Abraham – den Weg im Gehen zeigen und erschließen, darauf vertraue ich. Hilfreich finde ich in diesem Zusammenhang ein in der Kirche Asiens gern gebrauchtes Wort: „Träumt groß, beginnt klein, geht langsam – und geht nie allein.

Text – Kirchenzeitung Köln, Nr. 6/2016 vom 12. Februar 2016
Foto – Beatrice Tomasetti

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